Der Psychologe #Jan Kizilhan# erklärt, wie das Volk der Jesiden durch Genozid geprägt ist – Und warum Deutschland von der therapeutischen Arbeit im Nahen Osten profitiert Der Psychologe Jan Kizilhan erklärt, wie die Jesiden durch Genozid und Verfolgung gepregt.
Er leistet Pionierarbeit: Professor Jan Ilhan Kizilhan, Traumapsychologe von der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen, behandelt Menschen, denen Krieg, Gewalt und Verfolgung schwerste innerliche Wunden geschlagen haben. Sie kommen vom Balkan, aus Tschetschenien, aus Ruanda und immer wieder aus dem Nordirak , wo auch Kizilhan seine Wurzeln hat. Dort, in Dohuk, hat Kizilhan als Gründungsdekan mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg und des Bundesaußenministeriums das Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie aufgebaut, das deutschen Standards folgt und einen entsprechenden Masterstudiengang anbietet. Die ersten Studenten haben ihren Abschluss bereits gemacht, weitere folgen im Frühsommer, zudem hat im Oktober ein neuer Jahrgang begonnen. Ab 2023 soll das Institut auf eigenen Füßen stehen.
Ein zentraler Bestandteil in der Ausbildung ist die Praxis, also die Arbeit mit Patienten, was einerseits in der vom Institut gegründeten Ambulanz erfolgt sowie in den Flüchtlingscamps selbst. Fünf Studenten, die in den Camps mit traumatisierten Menschen arbeiten, werden dabei finanziell unterstützt durch die Aktion „Helfen bringt Freude“ der „ Schwäbischen Zeitung “ und der Caritas-Flüchtlingshilfe. Dirk Grupe sprach mit Jan Kizilhan über Chancen und Gefahren bei einer Rückkehr der Jesiden in ihre Heimatdörfer und darüber, was Therapeuten bei den schwer traumatisierten Menschen bewirken können.
Herr Kizilhan, manche Jesiden aus den Flüchtlingscamps im Nordirak wagen inzwischen die Rückkehr in ihre Dörfer im Shingal-Gebirge, wo sie 2014 Gräuel und Verfolgung erlebten. Ist eine solche Rückkehr unter psychologischen Gesichtspunkten überhaupt sinnvoll?
Das größte Problem dabei ist, dass die politische Situation im Shingal-Gebirge ungeklärt ist und niemand die Sicherheit der Menschen gewährleisten kann. Außerdem können die Rückkehrer nicht einfach mit ihren muslimischen Nachbarn wieder zusammensitzen, da diese sich teilweise an den Massakern gegen die Jesiden beteiligt haben. Es gibt aber auch positive Aspekte bei einer Rückkehr.
Die wären?
Die Menschen treffen bei ihrer Heimkehr auf ihre zerstörten Häuser, sie erinnern sich an die Massenexekutionen, an die Flucht – das kann wie eine Psychotherapie wirken, denn sie werden mit dem Trauma konfrontiert. Auf diese Weise können sie lernen, damit umzugehen. Voraussetzung ist aber neben einer verbesserten Sicherheitslage, dass die Betroffenen in diesem Prozess begleitet werden.
Für die fachliche Begleitung in der Region sorgen Sie mit dem Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie. Sind Sie zufrieden, wie sich dieses Projekt entwickelt?
Ja, sehr. Unsere Absolventen sind äußerst begehrt. Auch wir selbst bekommen immer wieder Anfragen von Nichtregierungsorganisationen, die ihre Leute bei uns ausbilden lassen wollen. Denen müssen wir jedoch klar sagen: Der Masterstudiengang richtet sich an Einheimische, die die Sprache und Kultur der Bevölkerung kennen. So bringen wir den Beruf des Psychotherapeuten in den Nahen Osten, wo es das bisher nicht gab.
Der Bedarf an dieser Form der Gesundheitsversorgung dürfte zweifellos vorhanden sein ...
... unbedingt, in den Flüchtlingslagern leben noch immer Hunderttausende und die meisten sind traumatisiert. Ihre Verwandten und Freunde wurden Opfer von Massenexekutionen, Frauen wurden verschleppt und vergewaltigt, Kinder waren auf der Flucht. Was da an schrecklichen Dingen passiert ist, haben sie nicht verarbeitet. Sie leiden an psychischen Erkrankungen, an Ängsten und Alpträumen, sie können nicht einschlafen oder fürchten, der IS könne zurückkommen.
Wie wirken sich diese Belastungen aus?
Werden die Zustände chronisch, isoliert sich der Mensch, er empfindet keine Freude mehr, kann keiner Arbeit mehr nachgehen oder auf andere zugehen. Bei den vergewaltigten Frauen kommt das verletzte Ehrgefühl dazu. Sie empfinden Demütigung und Kränkung, sie kommen mit ihrem Körper nicht zurecht. Das führt zu ständiger Anspannung und auch körperlichen Beschwerden, zu Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, Migräne ...
Ist bei so dramatischen Schicksalen überhaupt eine Art Heilung möglich?
Diese Ereignisse haben stattgefunden und lassen sich nicht auslöschen. Bei den Betroffenen haben die Symptome die Kontrolle über das Leben übernommen. Deshalb geht es darum, dass der Patient das Geschehene akzeptiert und versteht: „Ich weiß, dass es passiert ist, es ist Teil meines Lebens, aber ich lasse mich von den Symptomen nicht kontrollieren.“ Ziel der Psychotherapie ist also nicht Heilung, sondern die Integration des Erlebten. Aus dem Wissen des Nichtvergessens kann außerdem eine Wertschätzung für das Leben entstehen wie: „Ich bin durch die Hölle gegangen, ich weiß, was das heißt.“ Schon kleine Dinge können so an positiver Bedeutung gewinnen.
Sprachlos macht einen die enorme Anzahl an jenen, die Grausamkeit und Todesangst erlebt haben. Muss man da von einem kollektiven Trauma sprechen?
Durchaus. Der „Islamische Staat“ wollte ja nicht nur Frauen vergewaltigen und versklaven, er wollte die Volksgruppe der Jesiden systematisch vernichten, davon gehen auch die Vereinten Nationen (UN) aus. Die Jesiden sind in den Augen des IS Ungläubige, die entweder zum Islam konvertieren oder ermordet gehören. Das löst ein kollektives Trauma aus, zu dem noch etwas anderes hinzukommt: Die Jesiden haben in ihrer langen Geschichte 74 Genozide erlebt. Diese Erfahrungen und die Geschichten darüber werden von Generation zu Generation weitergegeben und prägen so die Kultur und die Persönlichkeit eines jeden Einzelnen.
Und offenbar auch das Bild von außen über die Jesiden, die in ihrer Heimat als Volk der vierten oder fünften Kategorie gelten, wie es heißt. Es lässt sich erahnen, wie dadurch das Selbstbild beeinflusst wird, oder?
Ja, das stimmt. Die christliche Minderheit beispielsweise hatte immer eine Unterstützung durch die Kirche und auch durch die Anteilnahme des Westens. Auch sie hat viel Leid erlebt und es erging ihr oft schlecht. Die Jesiden leben jedoch seit Generationen mit Stigmatisierung, mit Stereotypisierung und Ausgrenzung, sogar zu ihren kurdischen Nachbarn und Freunden. Auch das prägt die Kultur und jeden einzelnen Menschen.
Inwiefern spielen dann bei der Behandlung kulturelle Eigenheiten eine Rolle?
Eine große Rolle. Wir lernen ständig dazu, welche Techniken bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen funktionieren und welche nicht. Unsere Erfahrungen veröffentlichen wir auch verstärkt in Fachmagazinen. Das kommt wiederum der Psychotherapie in Deutschland zugute.
Also Erfahrungen aus den Flüchtlingscamps von denen die Gesellschaft hierzulande profitiert?
So ist es. Es gibt in Deutschland so viele Migranten, die psychotherapeutische Unterstützung brauchen. Durch unsere Arbeit im Nordirak verstehen wir immer besser, wie wir diese Menschen erreichen und wie wir ihnen helfen können.
Ein Opfer des „Islamischen Staates“
Jan Ilhan Kizilhan hat schon viele Menschen getroffenen und behandelt, die schrecklichste Dinge erlebt haben. „Aktuell berührt mich persönlich sehr die Geschichte einer Patientin, die flüchten konnte“, berichtet er im Gespräch. 2016 war die Frau in einem Gebiet, das damals der „Islamische Staat“ kontrollierte. Sie saß in einem Bus und stillte ihr Baby, die Brust verdeckt und kaum sichtbar für die Mitreisenden. Aber zu viel für die IS-Kämpfer. „Sie zogen die Frau aus dem Fahrzeug und schrien sie an: ,Wie kannst du dich so schändlich verhalten?’“ Zur Strafe schlugen sie der Mutter eine Hand ab. „Später wollte man die Frau umbringen, doch sie konnte mit dem Baby fliehen“, berichtet Kizilhan.
Inzwischen lebt sie mit ihrem Kind in einem Flüchtlingscamp, verstümmelt, weil sie ihrem hungrigen Baby Nahrung geben wollte. In dem Camp erhält die Frau therapeutische Hilfe durch Masterstudenten des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie in Dohuk .[1]