Das Klagelied eines Volkes
Tuncer, Oktay
eBook-Herstellung
Dortmund 2015
Einleitung – Leyla Zana und die
kurdische Frage in der Türkei
Als die kurdische Politikerin Leyla Zana nach ihrem Einzug in das
türkische Parlament am 6. November 1991 ihren Amtseid zunächst
auf Türkisch beginnt, ihn aber mit dem kurdischen Satz beschließt:
„Diesen Eid lege ich im Namen der Verbrüderung des türkischen und
kurdischen Volkes ab“, erntet sie lauthals Kritik von den anderen
Parlamentsmitgliedern. Drei Jahre später wird sie aufgrund einer
Rede, die sie in den USA gehalten hat, verhaftet. Zana wird zu 15
Jahren Haft verurteilt mit dem Vorwurf, sie sei Mitglied in einer
illegalen Vereinigung. Die kurdische Politikerin wird bis heute von der
kurdischen Bevölkerung als „Märtyrerin“ und Vorbild gesehen.
Ethnische Minderheiten kämpften nicht nur in der Türkei, sondern
auf der ganzen Welt um Anerkennung. Vor allem nach dem
Holocaust drängten die Europäer darauf, dass ein Gesetz zum
Schutze von Völkern erlassen wird. Die Vereinten Nationen
verabschiedeten am 26. Juni 1945 ihre Charta und einigten sich
darin auf das heute noch geltende Völkerrecht. In diesem wird unter
anderem das Staatsvolk als konstitutiver Bestandteil eines Staates
angesehen. Aber: Woraus besteht das Staatsvolk und was ist mit
den Menschen, die sich nicht als Teil von diesem sehen? Was ist mit
ethnischen Minderheiten? Besonders schwierig ist es für diejenigen,
die sich über Staatsgrenzen und Herrschaftsterritorien hinweg
zusammengehörig fühlen.
Der Konflikt zwischen der Türkei und den kurdischen Minderheiten in
den Kurdengebieten ist ein anschauliches Beispiel für die
Definitionsschwierigkeiten eines „Volkes“ und die
Anerkennungsproblematik einer ethnischen Minorität. Vor allem seit
dem Beginn der Verhandlungen zu einer möglichen EU
Beitrittskandidatur der türkischen Republik verursacht gerader dieser
Konflikt die größten politischen Probleme seit der Gründung der
Republik 1923. Noch immer beherrscht der Konflikt die aktuelle
Tagespolitik. Die so genannte „Kurdenfrage“ wird mittlerweile seit
Jahren auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern
heiß diskutiert – und führt nicht zuletzt auch immer wieder zu
Auseinandersetzungen mit der Türkei. Vor diesem Hintergrund wird
die provozierende Wirkung der von Leyla Zana bei ihrem Amtsantritt
gesprochenen Worte fassbar.......[1]