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Von Lausanne zu Erdogan Die Türkei und der 24. Juli 1923
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Von Lausanne zu Erdogan Die Türkei und der 24. Juli 1923

Von Lausanne zu Erdogan Die Türkei und der 24. Juli 1923
Peter Prantner

Nach zähen, rund acht Monate dauernden Verhandlungen ist am 24 -07-1923 in Lausanne das Ende des Osmanischen Reichs besiegelt worden. Das Datum markiert die Geburtsstunde der heutigen Türkei und ist fest im kollektiven Gedächtnis des Landes verankert. Erklärtes und verfehltes Ziel war ein nachhaltiger Frieden im Nahen Osten. Sehr wohl als nachhaltig erweisen sich die vor 100 Jahren neu definierten Grenzen, was wiederum dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan missfällt.
Dabei ist die mit dem #Vertrag von Lausanne# aus der Taufe gehobene Türkei nach weitläufiger Meinung das Resultat eines türkischen Sieges und dadurch auch deutlich größer und mächtiger, als es ein erst drei Jahre zuvor von den Siegermächten diktiertes Abkommen noch vorsah.
Der 1920 von Vertretern des osmanischen Sultans und der osmanischen Regierung mit den Entente-Mächten ausverhandelte Vertrag von Paris-Sevres wurde von der Gegenregierung in Ankara strikt abgelehnt. Mit dem Sieg gegen die griechische Besatzungsarmee sorgte der aufstrebende, später auch Atatürk (Vater der Türkei) genannte Mustafa Kemal dann für gänzlich neue Vorzeichen – und grünes Licht für die schon zuvor eingeforderte Neuverhandlung.

„Obligatorischer Bevölkerungsaustausch“
„Die Türkei kam nun als Siegermacht nach Lausanne und wurde auch so behandelt“, sagte dazu Gaby Fierz, Mitkuratorin einer Ausstellung zum 100. Jahrestag im Historischen Museum von Lausanne gegenüber dem Schweizer Fernsehen (SRF). In direkter Folge wurde in Lausanne die Abtretung großer Teile des einstigen Vielvölkerstaats an Frankreich, Großbritannien und Griechenland wieder ad acta gelegt.
Aber auch eine Gebietsabtretung an die Armenier und die ebenfalls auf einen eigenen Staat hoffenden Kurden war mit dem neuen, zwischen der Türkei mit Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ausverhandelten Vertrag von Lausanne wieder vom Tisch. Vielmehr wurde von den Verhandlern in Lausanne ein bis dahin beispielloser „Bevölkerungsaustausch“ vertraglich abgesegnet.
Von der Zwangsumsiedlung betroffen waren geschätzte 1,2 Millionen, teils schon vor Lausanne nach Griechenland gebrachte anatolische Christen. Nach Angaben des Historischen Museums Lausanne habe zwischen 1914 und 1923 der größte Teil der christlichen Bevölkerung das Gebiet der heutigen Türkei verlassen. Etliche Christen seien bereits im Sog der Balkan-Kriege aus dem Land geflohen. Auf der Gegenseite traf der „obligatorische Bevölkerungsaustausch“ um die 400.000 Muslime, die Griechenland Richtung Türkei verlassen mussten.

„Im Wesentlichen Revision von Sevres“
„Minderheitenschutz existierte im Vertrag von Lausanne nur noch für religiöse, aber nicht mehr für ethnische Minderheiten. Damit wurde die Türkei als Nationalstaat begründet“, hält dazu der Politologe Thomas Schmidinger von der Universität Wien gegenüber ORF.at fest.
„Mit Lausanne wurde die bereits erfolgte Vertreibung der Griechen legalisiert, der deutlich größere armenische Staat, der auch die östliche Schwarzmeer-Küste, Erzerum und die Region um den Van-See umfassen hätte sollen, zerschlagen und die Autononomieregion für die Kurden – die im Vertrag von Sevres sogar noch mit der Möglichkeit für eine spätere Unabhängigkeit versehen worden war – obsolet“. Hingegen war die Türkei nach Lausanne „wieder deutlich größer als das Rest-Osmanische-Reich nach Sevres, und sie hatte in ihrem gesamten Territorium völlige Souveränität“.

„Jahrhundertfrieden“ mit Demokratieproblem
Der letzte Vertrag des Pariser Vertragssystems sei „zugleich dessen erste radikale Revision“, sagt dazu der Schweizer Historiker und Autor des Buchs „Nachostfrieden ohne Demokratie“, Hans-Lukas Kieser. „Der Lausanner Vertrag legte am 24. Juli 1923 die Grundlagen des modernen Nahen Ostens fest und wurde seither generell positiv kommentiert“, heißt es in Kiesers Buch – „unmissverständlich“ sei die Region im Vertrag von Lausanne aber auch als „Arena“ festgeschrieben worden, „in der das ‚Recht‘ des jeweils Stärkeren gelten würde, sofern dieser sich vorteilhaft mit den Westmächten arrangierte“.

Lausanne markiere damit „nicht nur das Ende des Völkerbund-Projekts einer selbstbestimmten sicheren Zukunft für kleine Völker im Nahen Osten, sondern gab auch faschistischen Strömungen in Europa entscheidenden Auftrieb“. Dazu komme ein erzwungener Bevölkerungsaustausch als Blaupause „für ‚Konfliktlösung‘ durch erzwungene ‚Entmischung der Völker‘“.

Die Rede ist von einem „hofierten Diktaturmodell“ und einem problematischen „Jahrhundertfrieden“ – Kieser berücksichtigt aber auch die „berüchtigte orientalische Frage“ und in diesem Zusammenhang die Erasmus von Rotterdam zugeschriebene These, wonach ein ungerechter Friede besser als der gerechteste Krieg sei. „Ist es nun ein gutes oder ein schlechtes Ei?“, lautet passend dazu die Frage in einem kurz vor der Vertragsunterzeichnung im britischen Boulevardblatt „The Bystander“ veröffentlichten Cartoon. Offen bleibt, ob auch damals bereits die Worte von Erasmus als Grundlage dienten.

„Infragestellung“, nicht „Verteufelung“
„Mit der Weisheit eines Jahrhunderts versehen“ sei es nun jedenfalls an der Zeit, „den Lausanner Nahostfrieden und seine Folgen radikal zu überdenken“, wie Kieser die hinter seinem Buch liegende Intention beschreibt. „Jenseits nationalistischer Narrative, diplomatischer Zweckmässigkeit und Beschönigung“ gehe es um „eine weiterführende Analyse aus hundertjähriger Distanz“.
Diese „radikale Infragestellung“ des Vertrags von 1923 wollte Kieser in seinem Buch aber keineswegs als „Verteufelung“ missverstanden wissen: Das wäre „Wasser auf die Mühlen reaktionärer Revisionisten, von denen sich gegenwärtig türkische Ultranationalisten und Islamisten am lautesten zu Wort melden“, schreibt Kieser in „Nahostfriede ohne Demokratie“, wobei der Historiker in diesem Zusammenhang gegenüber ORF.at auch die „Mär von der nur 100-jährigen Gültigkeit des Vertrags“ erwähnt.

Hagia Sophia seit 24. Juli 2020 Moschee
Ominöse geheime Klauseln, mit denen ein Ablaufen am 24. Juli 2023 im Lausanner Vertrag festgehalten worden sei, wurden auch kurz vor dem Jahrestag weiter nicht gefunden. Etwa mit der 2017 öffentlich infrage gestellten Grenzen mit dem Irak, Syrien und Griechenland und 2020 mit der am symbolträchtigen 24. Juli in eine Moschee umgewandelten Hagia Sophia rüttelt unterdessen auch der seit nunmehr 20 Jahren tonangebende türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder breitenwirksam am Vertrag von Lausanne.
Als Hintergrund verweist Schmidinger hier auf die von Erdogan wie auch von dessen ultranationalistischem Koalitionspartner MHP als zentrales Staatsziel der Türkei angestrebte Wiedererlangung der Stärke des Osmanischen Reiches. „Was aus deren Sicht revidiert werden soll, ist nicht primär der Vertrag von Lausanne, sondern die Niederlage des gesamten Osmanischen Reiches.“

Nationalistische und revanchistische Rhetorik seien aber nicht immer das Gleiche wie realpolitische Ziele, weswegen Schmidinger in den Raum stellt: „Selbst Erdogan dürfte klar sein, dass das so nicht erreichbar ist. Vielmehr dienen solche nationalistischen Mobilisierungen primär dem eigenen Machterhalt und der Ablenkung von den massiven ökonomischen und politischen Problemen im Land.“[1]
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