Während die Ezid:innen in #Şengal# mit dem Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung auf die Genozid-Erfahrungen antworten, leiden sie noch immer unter der Ignoranz und Unterdrückung der irakischen und südkurdischen Regierungen.
Die Diskussionen, Bewertungen und Bemühungen innerhalb der ezidischen Gemeinschaft und unter den Menschen in Şengal um den Aufbau einer freien und demokratischen Zukunft haben sich im Rahmen des elften Jahrestags des Völkermords durch den selbsternannten Islamischen Staat (IS) 2014 intensiviert. Das ezidische Volk hat sich seither nicht nur gegen anhaltende Angriffe verteidigt, sondern auch begonnen, ein eigenes demokratisches System aufzubauen.
Um die drängenden Probleme der Region zu lösen, bemüht sich der Demokratische Autonomierat von Şengal (MXDŞ) seit elf Jahren konsequent, auf demokratischer Basis Beziehungen zur irakischen Zentralregierung aufzubauen. Anstatt jedoch die Bemühungen des ezidischen Volkes um Selbstbestimmung und demokratische Regierungsführung zu unterstützen, hat sich der irakische Staat, insbesondere während der Amtszeiten von Mustafa al-Kadhimi [2020-2022 Premierminister des Iraks, Anm. d. Red.] und Mohammed Shia al-Sudani [seit 2022 Premierminister des Iraks, Anm. d. Red.], dafür entschieden, die Unterdrückung der Minderheit durch militärische und geheimdienstliche Mittel zu verschärfen.
Der Wunsch nach Freiheit und Anerkennung
Dies gibt der ezidischen Gemeinschaft und der Bevölkerung Şengals nach elf Jahres Anlass, ihre Beziehung zum Irak zu überdenken. In diesem Zusammenhang stehen sowohl die Entwicklung der irakischen Politik seit den 1920er Jahren als auch die Haltung Bagdads gegenüber Şengal nach dem Völkermord im Mittelpunkt einer erneuten Analyse und Debatte. Ausgehend von einer historischen Perspektive intensivieren die Ezid:innen ihren Kampf, um ein demokratische System zu etablieren und den Ausblick auf eine Zukunft zu erschaffen, die auf Freiheit basiert.
Der ezidische Politiker Hisên Hecî hat mit ANF über die Gründung des irakischen Staates nach dem Untergang des Osmanischen Reiches und die darauf folgenden politischen und administrativen Veränderungen gesprochen.
Kein Status für die Ezid:innen
In den letzten 100 Jahren seien den Ezid:innen weder soziale noch demokratische Rechte zuteil geworden, leitet Hecî ein: Er sagte: „Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches wurde der irakische Staat in den 1920er Jahren als Monarchie gegründet. Innerhalb dieses neuen Staates wurden die Ezid:innen weder als Volk noch als Religionsgemeinschaft anerkannt. Infolgedessen wurden ihnen keine Rechte gewährt.
Mitglieder der ezidischen Gemeinschaft wurden nie als gleichberechtigte Bürger:innen angesehen. Ob unter einer Monarchie, einer Republik oder einem parlamentarischen System, die spezifische Identität der Ezid:innen wurde nie anerkannt. Doch in allen Völkermorden, Kriegen und Krisen des Irak standen die Ezid:innen mutig ihren Mann.“
Vertreibung als historische Kontinuität
Saddam Hussein vertrieb die Ezid:innen 1975 schließlich gewaltsam vom Berg Şengal und siedelte sie in den tiefer gelegenen Ebenen an. Hecî bezeichnet diese Politik als eine Form des „partiellen Völkermords“, Vertreibungen und Umsiedlungen hätten historisch immer wieder stattgefunden und oft hätten die Ezid:innen dem machtlos gegenübergestanden. „Seitdem haben die Bemühungen, die Ezid:innen aus ihrer Heimat zu vertreiben, nie aufgehört. Als der Iran-Irak-Krieg begann, wurden Tausende von Ezid:innen getötet. Sie kämpften mit Glauben und Mut an der Front. Bis heute werden sie jedoch weder als Volk noch als Glaubensgemeinschaft anerkannt.“
„Wir erwarten Respekt für unsere Existenz“
Nachdem zunächst die irakische Regierung ihre Autorität über die Region Şengal etabliert hat, fiel sie 2003 unter die Kontrolle der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), erklärt der Politiker: „Die PDK übernahm die Ressourcen, den Haushalt und die Wahlen von Şengal. Wer auch immer in Irak an die Macht kam, nutzte die Ezid:innen für seine eigenen politischen Interessen. Den Ezid:innen wurde nie erlaubt, frei als Ezid:innen zu existieren.
Wir respektieren alle Völker und alle Glaubensrichtungen und erwarten denselben Respekt für unsere Existenz.“ Er verweist auf die langanhaltende Unterdrückungsgeschichte der Glaubensgemeinschaft, die immer wieder auch staatliche Erlasse und Plünderungen beinhaltete, ganz gleich wer sich an der Macht befunden habe.
Selbstverteidigung sichert Heimatregion
In Bezug zum Völkermord von 2014 konstatiert Hecî in aller Deutlichkeit: „Dieser Völkermord war Teil einer systematischen und geplanten Aktion, um uns zu vernichten. In den letzten elf Jahren hat sich die irakische Regierung nie ernsthaft mit der Sache der Ezid:innen oder den Rechten und der Gerechtigkeit der Ezid:innen befasst. Ohne die Gegenwehr der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) wäre der Berg Şengal möglicherweise in die Hände des IS gefallen. Die Ezid:innen hätten womöglich ein Jahrhundert lang nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Aber dank der Freiheitskämpfer:innen konnte die ezidische Gemeinschaft heimkehren, um ihr Land zurückzuerobern.“
Irakischer Staat erkennt Genozid nicht an
Seitdem sind im Irak sechs Regierungen gekommen und gegangen. Keine dieser habe nennenswerte Schritte für die Ezid:innen unternommen, sondern das Thema als politisches Druckmittel genutzt oder bestenfalls verzögert. Noch immer hat der irakische Staat den Genozid von 2014 als solchen nicht anerkannt: „Dutzende Staaten und internationale Institutionen haben den Völkermord von 2014 anerkannt, aber das irakische Parlament weigert sich weiterhin, dies zu tun. Bis heute fehlt ihm der Mut, den Völkermord offiziell anzuerkennen.
Sie weigern sich, ihn anzuerkennen, weil sie wissen, dass sie schuldig sind. Und indem sie dies leugnen, verhindern sie, dass die Sache der Ezid:innen an Stärke gewinnt. Bis heute hat sich keine irakische Regierung ernsthaft und engagiert mit der Şengal-Frage befasst. Die drei dominierenden Mächte im Irak handeln gemeinsam, um ihre eigenen Interessen zu schützen, und es ist nach wie vor das Volk von Şengal, das den Preis dafür zahlt.“[1]