Israel verurteilt den Angriff der Türkei auf die Kurdengebiete im Norden Syriens mit scharfen Worten. Doch es geht mehr als nur um Sympathiebekundungen. Auch in Jerusalem weiß man nur allzu gut, dass der abrupte Kurswechsel Washingtons gegenüber den Kurden noch ganz andere Probleme mit sich bringen kann…
Von Ralf Balke
Normalerweise äußern sich israelische Veteranen in der Öffentlichkeit selten zu Themen, die auf den ersten Blick wenig mit Israel und seiner Politik in den besetzen Gebieten zu tun haben. Doch vergangene Woche gab es eine bemerkenswerte Ausnahme. „Wir Reserveoffiziere appellieren hiermit an die Verantwortlichen unserer Streitkräfte, alles zu unternehmen, damit ein Massaker an den Kurden vermieden wird,“ hieß es in einem von mehr als 150 ehemaligen Militärangehörigen unterzeichneten Schreiben an Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sowie Generalstabschef Aviv Kochavi, das auf Initiative von Yair Fink, einem Major der Reserve und linken politischen Aktivisten, verfasst wurde. „Als Israelis und Juden können wir nicht einfach tatenlos zuschauen, wie ein anderes Volk von unserem Bündnispartner einfach aufgegeben und schutzlos seinem Schicksal überlassen wird.“ Und so kamen am vergangenen Dienstag denn auch über 100 Personen zusammen, um erst vor der Botschaft der Türkei auf der Yarkon Straße in Tel Aviv gegen die türkische Militäroperation in Nordsyrien zu demonstrieren, und dann weiter zur der unweit davon entfernt gelegenen Außenstelle der diplomatischen Vertretung der Vereinigten Staaten zu ziehen – schließlich hatte der von US-Präsident Donald Trump verordnete abrupte Kurswechsel in der amerikanischen Syrienpolitik die Invasion der türkischen Armee in den Kurdengebieten überhaupt erst möglich gemacht. Gefordert wurde eine gezielte Unterstützung der Kurden durch Israel. Einige der Demonstranten trugen dabei Konterfeis der nur wenige Tage zuvor von protürkischen Milizen ermordeten kurdischen Politikerin Hevrin Khalaf mit sich, ein Ereignis, über das in den israelischen Medien ausführlich berichtet wurde. In Jerusalem kamen ebenfalls mehr als 100 Israelis zusammen, um ihrer Solidarität mit den Kurden Ausdruck zu verleihen.
Auch wenn die Demonstrationen der vergangenen Woche alles andere als Massenveranstaltungen waren, so ist die Verunsicherung in Israel über das amerikanische Vorgehen gegenüber den Kurden mindestens so groß wie das Gefühl der Verbundenheit mit den ihnen – und das über alle ideologischen und parteipolitischen Grenzen hinweg. Denn 200.000 Israelis selbst stammen aus den verschiedensten Regionen Kurdistans, die heute unter türkischer, irakischer sowie syrischer und iranischer Herrschaft sind. Bereits am 9. Oktober hatte sich die Ex-Justizministerin und Vorsitzende von Yamina, Ayelet Shaked, zu Wort gemeldet und in ungewöhnlich deutlichen Worten für die Gründung eines kurdischen Staates plädiert, übrigens zum wiederholten Male. „Unser nationales Gedächtnis verlangt es geradezu, dass wir gegen Gewalt revoltieren, die gegen eine andere Nation gerichtet ist“, schrieb sie auf Facebook. „So wie aktuell die türkische Gewalt gegen das kurdische Volk im Norden Syriens.“ Darüber hinaus betonte sie, dass es im Interesse sowohl Israels als auch der Vereinigten Staaten sei, wenn endlich ein kurdischer Staat entstehe. „Die Kurden sind die größte Nation der Welt ohne einen eigenen Staat, und das bei einer Bevölkerung von rund 35 Millionen Menschen. Es ist ein altes Volk, das eine ganz spezielle historische Beziehung zu uns Juden hat.“ Ferner hob sie den Beitrag und den hohen Blutzoll bei der Niederringung des Islamischen Staates hervor, den die Kurden geleistet hatten. Auch Ministerpräsident Netanyahu äußerte – wenn auch auffällig spät – seine Kritik am türkischen Vorgehen in Nordsyrien und sprach dabei von einer „ethnischen Säuberung“ und den „tapferen Kurden“. Er versprach ihnen Hilfe, ohne jedoch zu erklären, wie diese konkret aussehen wird. Unmut über Trump dagegen war nicht von ihm zu hören. Auch aus den Reihen von Blau-Weiß kamen Solidaritätsbekundungen. „Als Staat einer ethnischen Minorität im Nahen Ost, kann Israel seine Augen nicht vor dem Leid der Kurden in der Region verschließen“, twitterte ihr Knesset-Abgeordneter Zvi Hauser.
Die Tatsache, dass Trump dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan grünes Licht für sein brutales Vorgehen in den Kurdengebieten Nordsyriens gegeben hatte, sollte nicht nur in Israel zu Protesten führen. Weltweit wurde das Vorgehen des NATO-Mitgliedslandes Türkei kritisiert. Über 160.000 Kurden befinden sich aktuell bereits auf der Flucht, Experten befürchten, dass die Zahl schnell auf rund eine Million anwachsen könnte. Und das kurdische Militärbündnis SDF, bestehend unter anderem aus den sogenannten kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), den Frauenverbänden (YPJ) sowie kurdisch-turkmenischen Gruppen, erklärte, dass anlässlich des Rückzugs der amerikanischen Einheiten vor Ort sowie dem Einmarsch der Türkei die „Uhren um sechs Jahre zurückgedreht“ wurden, weil nun der Islamische Staat wieder ungehinderter agieren kann.
Für Israel ergeben sich aufgrund des Schwenks Washingtons zahlreiche neue Herausforderungen und Probleme in dem ohnehin komplizierten Verhältnis zu den Kurden – schließlich können bereits verbale Solidaritätsbekundungen mit ihnen zu gravierenden außenpolitischen Verstimmungen führen. Wenig überraschend polterte Fahrettin Altun, Erdogans PR-Chef zurück, dass die Kommentare Netanyahus „leere Worte eines würdelosen Politikers sind, auf den wegen Bestechung, Betrug und anderen Delikten viele Jahre Gefängnis warten“. Und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sein Chef, der türkische Präsident, mit dem Verweis auf Israels Politik gegenüber den Palästinensern die nächste Runde im verbalen Schlagabtausch einläutet. Auch hat sich Israel selbst gegenüber den Kurden immer äußerst ambivalent verhalten. Auf der einen Seite pflegte man in der Vergangenheit ein enges Verhältnis, das auch Waffenlieferungen und umfangreiche militärische Kooperationen beinhaltete. Denn Israel und die Kurden hatten als Minderheiten in der Region einige gemeinsame Feinde, allen voran den Irak Saddam Husseins, den Iran der Mullahs sowie das Syrien unter dem Assad-Clan. Mit der Türkei sah das alles ein wenig anders aus, Ankara war jahrzehntelang ein enger Verbündeter Jerusalems, bis dann Erdogan das Ruder übernahm, weshalb sich die israelische Unterstützung der Kurden sehr in Grenzen hielt. Doch der Irak ist längst keine Bedrohung mehr. Und bereits in den 1990er Jahren ließ Israel syrische Kurdengruppen fallen, als die Möglichkeit eines Friedensvertrags mit Damaskus kurzzeitig am Horizont auftauchte. Insofern haben sich die verschiedenen israelischen Regierungen in der Vergangenheit kaum anders verhalten als der nun viel kritisierte Westen: Wenn es brenzlig wurde, galten andere Prioritäten als ein unabhängiges Kurdistan. Trotzdem setzten die Kurden immer wieder auf Unterstützung aus Israel. So auch jetzt, als ein anonym gebliebener Politiker aus der kurdischen Stadt Qamishli im israelischen Militärradio Jerusalem aufforderte, wenigstens auf diplomatischer Ebene den Kurden zu Hilfe zu kommen.
Unabhängig davon, welches Schicksal den Kurden nun blüht – der offensichtliche Verrat Washingtons an den Kurden lässt in Israel die Alarmglocken erklingen. Zum einen zeigt sich, dass Trumps bisherige Maßnahmen, allen voran die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt sowie der israelischen Oberhoheit über den Golan, nicht anderes als Symbolpolitik und „leere Gesten“ waren, wie der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert jüngst in der Jerusalem Post schrieb. „Deshalb sollte man auch nicht sonderlich verwundert über den amerikanischen Rückzug aus Syrien sein.“ Die Kurden galten als verlässliche Verbündete der Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Islamischen Staat, nun werden sie einfach fallen gelassen und sind von heute auf morgen der Aggression eines Erdogan ausgeliefert. Und dem Spott und Hohn Trumps, der auf einer Pressekonferenz in Washington behauptete, dass einige kurdische Gruppen schlimmer als der Islamische Staat seien. „Die PKK, die zu den Kurden gehört, wie Sie wissen, ist eine größere terroristische Bedrohung als der IS.“ Außerdem könnten sich fortan Russland, der Iran und Syrien dem Problem Islamischer Staat annehmen. „Es ist ihr Teil der Welt. Wir sind 7.000 Meilen davon entfernt. Russland ist tough, sie können IS-Angehörige ebenso töten und sie sind ja schon in der Nachbarschaft zugange.“
„Kobani heute, Krakau morgen“, betitelte deshalb das Fachmagazin Foreign Policy einen aktuellen Beitrag, der die Stimmung in mancher europäischen Hauptstadt nach diesem Politikwechsel wiedergab. Denn was heute für die Kurdengebiete gilt, könnte morgen in Polen oder einem der baltischen Staaten der Fall sein. Oder eben in Israel, wo der plötzliche Rückzug der Amerikaner existentielle Ängste weckt, dass fortan Moskau, Damaskus und Teheran in der Region ohne das Gegengewicht einer Weltmacht schalten und walten können, wie es ihnen beliebt. Auf Kanal 13 des israelischen Fernsehens brachte Militäranalyst Or Heller die Konsequenzen des neuen Isolationismus à la Trump folgendermaßen auf den Punkt: All das wird den Iran dazu ermutigen, seine Aggressionspolitik zu forcieren, wie Teheran bereits vor wenigen Wochen mit den Angriffen auf die Erdölanlagen in Saudi Arabien vorexerziert hatte: seine Gegner verstärkt anzugreifen. Entsprechend lauteten bereits einige Überschriften in der israelischen Presse. „Der nächste Verrat“ und „Das Messer in unseren Rücken“ hiess es in zwei Beiträgen bei Yedioth Achronoth über das Fallenlassen der Kurden. Der Tenor: Die Israelis sollten endlich zur Kenntnis nehmen, was Trumps Parole „America First“ wirklich bedeuten kann, nämlich der langfristige Rückzug aus der gesamten Region und die Tatsache, dass sich die Vereinigten Staaten aus der Perspektive sowohl ihrer Feinde und Freunde zunehmend als Papiertiger erweisen. Für Netanyahu könnte der Schwenk Washingtons sogar zu einem persönlichen Problem werden, weil er in den beiden Wahlgängen in diesem Jahr voll und ganz auf sein Image als enger Partner Trumps gesetzt hatte. Nun zu erklären, dass man damit ziemlich daneben lag, wäre ein Eingeständnis des Versagens der eigenen Urteilskraft und der Tatsache, einer Illusion aufgesessen zu haben – keine gute Voraussetzung in den aktuellen Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung.[1]