Interview mit Meryem #Kobanê#, Mitbegründerin der #YPJ# und Kommandantin im Kampf um Kobanê
anfKobanê: nicht nur eine Stadt, vielmehr ein Symbol, seit der IS die Stadt eroberte und die kurdischen und die mit ihnen verbündeten Kämpfer*innen sie 2015 zurück erkämpften. Kobanê steht für so vieles – die Erfolge der Revolution in Nord- und Ostsyrien, die Kraft der Frauen und die Strahlkraft dessen, was der Glaube an Veränderung bewirken kann.
Dieses Symbol ist auch dem türkischen Staat ein Dorn im Auge.
Im Januar diesen Jahres wurde zehn Personen der Prozess gemacht, weil sie im Oktober 2014 in der Türkei gegen die Angriffe des »Isalmischen Staates« auf Kobanê protestiert hatten, sieben von ihnen erhielten lebenslange Haftstrafen.
Zudem hat ein Gericht in Ankara die Anklageschrift in dem international kritisierten Kobanê-Verfahren gegen die damalige Führungsriege der Demokratischen Partei der Völker HDP angenommen. Insgesamt 108 Politikerinnen und Politiker werden darin terroristischer Straftaten beschuldigt, darunter Yüksekdağ und Demirtaş, die wie 25 weitere Betroffene in Haft sind. Sechs Beschuldigte aus dem Verfahren sind unter Führungsaufsicht, nach 75 weiteren wird gefahndet. Auch mehrere Mitglieder des Exekutivkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Südkurdistan, darunter Murat Karayılan, Duran Kalkan und Cemil Bayık, sind angeklagt. Sie alle werden der »Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes« beschuldigt, außerdem werden ihnen 37-facher Mord und Dutzende Mordversuche im Zusammenhang mit den Protesten vor mehr als sechs Jahren vorgeworfen.
Der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung für die Befreiung der Frau hat in den letzten 40 Jahren wichtige Errungenschaften für die Entwicklung der kurdischen Frauen mit sich gebracht. Ein Ergebnis dieser Auseinandersetzungen sind die Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Nord- und Ostsyrien.
Meryem Kobanê war eine der Kommandantinnen im Kampf um Kobanê 2014/2015. Gemeinsam mit den Verteidigungseinheiten der YPG und YPJ erklärte sie die Stadt am 27. Januar für befreit.
Im Folgenden erläutert sie, was sie nach Kobanê brachte und wie ihr Weg weiterging. Zeitlich eingebettet zwischen dem Jahrestag der Befreiung der Stadt und dem 8. März, dem internationalistischen Frauen*kampftag, freuen wir uns, dieses Gespräch nun hier erstmalig zu veröffentlichen.
Wir freuen uns, dass du dir Zeit für uns nimmst. Lass uns mit einer Vorstellung beginnen: Woher kommst du und wer bist du?
Wenn ihr mich fragt, woher ich bin, sage ich: Ich bin aus Kurdistan. Ich bin 1978 auf die Welt gekommen. Als Kind habe ich mit dem Kampf angefangen. Meine Familie hat immer für Kurdistan gekämpft. Als Kind hatte ich immer Vorbilder wie Leyla Qasim oder Rosa Luxemburg. Sie haben mich sehr interessiert und fasziniert. Ich kann jetzt nicht alle aufzählen, aber was ich sagen kann ist, dass mich vor allem die Frage interessiert hat, warum es Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern gibt. Mich haben zum Beispiel Frauen in der Französischen Revolution interessiert. Mich haben die Frauenkämpfe während der Weltkriege interessiert und fasziniert. Ich habe mich immer gefragt, warum vor allem Männer kämpfen und was eine Frau nicht hat, dass sie nicht Kommandantin werden kann. Dann habe ich die kurdische Frauenbewegung kennengelernt. Meine Neugier galt immer Frauen, die Widerstand leisteten und kämpften. Ich habe mich dafür interessiert und komme aus einer revolutionären Familie.
Wie bist du zu den YPJ gekommen?
Als der »Arabische Frühling« in Syrien begann, war das für mich ein Funke. Bei dieser Gelegenheit haben wir die YPJ gegründet, also kleinere Frauengruppen noch bevor die Revolution anfing. Wir haben kleinere Gruppen gegründet und uns auch militärisch gebildet. Danach haben wir uns von Familie zu Familie, Gegend zu Gegend organisiert. Es war, als hätten wir etwas geflochten. Die Organisierung der Frauen ist ähnlich wie ein geflochtener Zopf. Wenn du ihn loslässt, löst er sich auf, aber wenn du daran festhältst, bleibt er zusammen.
Unsere Nachricht an alle Frauen auf der Welt ist: Wir kämpfen auch für sie. Wir beobachten ihre Kämpfe mit großer Neugier. Sie sind mit mir und ich bin mit ihnen. Meine Nachricht an alle revolutionären Frauenbewegungen, an alle Feministinnen, an alle Frauen, die nach Freiheit suchen, ist, dass sie ihre Forderungen nicht aufgeben sollen, nicht bei kleinen Hindernissen stolpern dürfen und nicht in die Fallen des Kapitalismus tappen dürfen. Ich habe mir geschworen, dass ich für all diese Frauen kämpfen werde.
Für uns ist es sehr spannend und bereichernd, mit einzelnen Menschen, die Teil der Revolution sind, zu sprechen. Wir haben uns schon viel mit der Revolution und der Philosophie dahinter beschäftigt und würden mit dir gerne vor allem über die Rolle der Frau, über Selbstverteidigung und deinen Blick darauf sprechen.
Was die Selbstverteidigung betrifft: Sie ist ein menschliches Bedürfnis, besonders für Frauen. Denn wir sprechen davon, dass die Herrschaftssysteme sich der Frau immer als Wesen zweiter Klasse angenähert haben. Man hat die Frau ihrer selbst, ihrer Position in der natürlichen Gesellschaft, ihrer Kreativität, ihrer Stärke beraubt und sie in eine schwache Position gedrängt. Das ist ein historisches Problem. Doch besonders als wir die Ideen und die Philosophie des Vorsitzenden [Abdullah Öcalan] kennengelernt haben, haben wir zunächst mit der Frage angefangen, wie die Frau sich selbst finden und sie selbst sein kann – und wie kann sie davon ausgehend ein kommunales Leben führen? Wir sagen: »Wenn Frauen nicht frei sind, ist auch die Gesellschaft nicht frei.« Freiheit besteht nicht nur in der Kleidung, in dem Recht zu machen, was man will, sondern auch darin, die Philosophie, die Ethik einer Gesellschaft zu entwickeln. Sonst wird sich auch der Mann nie ändern und so wird auch keine genossenschaftliche, freundschaftliche Ebene entstehen. Auf dieser Basis haben wir die Revolution in Rojava und die YPJ aufgebaut. Die Basis der YPJ ist auf diesem Verständnis von Selbstverteidigung entstanden. Auf dieser Welt finden wir bei jedem Lebewesen drei grundlegende Merkmale: Fortpflanzung, Ernährung und Selbstverteidigung. Das sind auch die drei Grundlagen für das Leben des Menschen.
Der Mittlere Osten ist ein Ort der Kriege, ein Ort, der immer unter dem Druck von Ausbeutern stand. Mitten in diesem Halbmond [dem fruchtbaren Halbmond im Mittleren Osten] stehen wir als Kurd*innen. Aus diesem Grund sind wir ein Volk, das mit zahlreichen Problemen konfrontiert ist. Wir sind ein Volk, dessen Identität verleugnet wird. Davon ausgehend kann die Entstehung der YPJ so beschrieben werden: Wir wurden aus vielen Richtungen inspiriert. Ich bin eine der ersten Begründerinnen und Kommandantinnen der YPJ. Wenn ihr mich fragt, habe ich meine Kraft und Inspiration aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte revolutionärer und feministischer Bewegungen auf der ganzen Welt geschöpft, besonders von kurdischen Frauen. Wir haben die Geschichte des Mittleren Ostens untersucht, wie Frauen gekämpft und sich selbst verteidigt haben. Eine unserer stärksten Inspirationsquellen war der Umstand, dass der Mittlere Osten historisch betrachtet die Heimat von Göttinnen war. Womöglich sind wir ihre Nachfahrinnen.
Was ich damit sagen will, ist, dass unsere Bewegung nicht ohne Wurzeln ist. Wir sind nicht wie ein Pilz aus dem Nichts aufgetaucht, sondern mit einer Philosophie, mit einem Bewusstsein. Die Gründung der YPJ wurde zuerst auf Basis der Selbstverteidigung aufgebaut. Dabei haben wir uns versprochen, jede Frau auf der Welt zu verteidigen, die in Gefahr ist, unabhängig von Religion, Ethnie oder Glauben. Wo immer Menschen in Gefahr sind, werden wir uns, wenn möglich, dagegen stellen. Denn wir haben uns gegründet, um uns für Gerechtigkeit einzusetzen.
Am Anfang gab es den IS nicht. Die erste Phase bestand in der Verteidigung unserer Identität und Existenz, die vom Regime geleugnet wurden. In der zweiten Phase haben wir gegen die Al-Nusra-Front gekämpft, die die Orte angriff, die wir uns erkämpft hatten. Wir haben uns gegen das Regime und gegen Al-Nusra gestellt und es geschafft, denn wir hatten uns versprochen, jeden zu bekämpfen, der uns angreift. Erst danach ist der IS entstanden. Sowohl ideologisch betrachtet als auch aus der Perspektive der Frau stellt der IS nicht nur für uns, sondern für die gesamte Menschheit eine Gefahr dar. Das System des IS ist menschenfeindlich. Es beginnt damit, dass die Frau in den Augen des IS ein Nichts ist. Sie ist nichts als Beute. Genau so, wie ein Ort belagert, geplündert und Gegenstände erbeutet werden, haben sie auch Frauen auf diese Weise »erbeutet«. All das ist wirklich geschehen. Wir haben gesehen, wie sie Frauen in Şengal oder in Mossul entführt und auf Sklavenmärkten verkauft haben. Der IS hat mit einer mittelalterlichen Mentalität gekämpft. Wir leben im 21. Jahrhundert, aber das, was der IS tut, ist ein mittelalterlicher Krieg.
Kann es denn auf der ganzen Welt, in der ganzen Natur nur eine Farbe geben? In unserer Philosophie existiert das nicht. Denn wenn ein Mensch zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt, sagt er nicht: »Du bist Assyrer/Kurde/Araber/...« Denn du bist erst einmal ein Mensch. Doch in der Mentalität des IS herrscht der Gedanke, dass alle Islamisten sein sollen. Diese Mentalität gleicht der von Erdoğan: Alles soll eins sein. Es ist eine Diktatur. Doch die Welt dreht und entwickelt sich nicht mit Diktatoren. Das Gegengewicht dazu sind widerständige Frauen und kämpfende Menschen. Wenn es keine verschiedenen Farben, Sprachen und Dinge gibt, was hat dann dieses Leben für einen Sinn?
Ein Gefühl der Vergeltung ist etwas Grundlegendes, das sich in uns entwickelt hat. Ein weiterer hauptsächlicher Grund für unseren Kampf war die ganze Ungerechtigkeit, dieses Verleugnen von Menschen und insbesondere von Frauen. Unsere Ideologie dagegen ist umfassend und demokratisch. Was sehr wichtig ist: Wir haben mit einem festen Glauben gekämpft und sie genauso. Sie haben im Namen des »Islam« gekämpft – wobei es nicht einmal Islam genannt werden kann –, während wir für Geschwisterlichkeit, Menschlichkeit und Frieden gekämpft haben. Heute kann ich sagen: Wir haben gewonnen.
Wir haben unter sehr schweren Bedingungen gekämpft. In einer aus technologischer Sicht so weit entwickelten Welt haben wir mit nichts mehr als unseren Kalaschnikows gekämpft. Es war ein sehr ungerechter Krieg. Der Mensch kann all das nicht mit Worten beschreiben. Sie haben mit der Unterstützung von Staaten mit schweren Waffen und Panzern gekämpft. Wir dagegen haben nur mit unserem Glauben und unseren Kalaschnikows gekämpft. Vielleicht fragen sich manche Menschen, ob das ein Wunder war, aber unser Kampf basierte auf einem Glauben. All das war das Resultat einer Philosophie.
Unsere Identität mag kurdisch sein, aber wir haben für alle Völker gekämpft. Das habe ich auch damals gesagt, wenn sie mich im Kampf nach der Quelle meiner Inspiration und Stärke fragten. Ich sage es heute wie damals: Ich ziehe meine Stärke aus der Menschheit und der Philosophie des Vorsitzenden. Trotz all der Dinge, die geschehen sind, ist es mir gelungen, meine Hoffnung nicht zu verlieren, denn ich glaube an die Stärke aller Frauen. Sei es in Afrika, in Amerika, in England, in Ägypten, in Pakistan oder in Afghanistan, wir mögen verschieden sein, aber unsere Gefühle und unsere Ziele sind eins. Denn jeder Mensch möchte Frieden und Gerechtigkeit.
Unter diesen schwierigen Bedingungen, in diesem Kriegsgebiet, habe ich stets dieses Gefühl gehabt: Vielleicht bin ich hier, aber in meinem Herzen schlagen auch die Herzen von Tausenden, Millionen von Menschen; und dann dachte ich mir: »Wenn wir heute nicht kämpfen, gibt es schon morgen für die Menschheit zu vieles zu verlieren.« Manchmal, wenn wir nur vier, fünf Freund*innen waren, hat es sich angefühlt wie eine Armee aus Tausenden Menschen, weil ich es im Herzen von jedem fühlen konnte.
Du hattest eine sehr wichtige Rolle im Widerstand von Kobanê. Was nimmst du speziell aus der Zeit mit für die Zukunft, mit Blick auf unterschiedliche Dinge, auf die Revolution, auf die Rolle der Frau, aber auch für dich selbst?
Es sind Hunderte, Tausende von Menschen in dieser Zeit als Märtyrer*innen gefallen. Sie haben einen Kampf im Namen der Menschheit geführt. Ich habe eine Verantwortung für diesen Kampf übernommen. Es hat meinen Blick auf die Welt sehr verändert, so viele sich aufopfernde Menschen zu sehen, die gegen Faschismus kämpfen. Dieser Kampfgeist hat auch in mir einen Kampfgeist geweckt. Auch wenn man mir die ganze Welt geben würde, hätte es für mich keine Bedeutung, wenn Menschen nicht gemeinsam ein demokratisches Leben führen und es zwischen den Völkern keine Liebe und Geschwisterlichkeit gibt. Ich habe dort im Namen von kurdischen, arabischen, deutschen, von allen Frauen auf der Welt gekämpft. In diesem Kampf habe ich die meiste Kraft aus der Philosophie des Vorsitzenden geschöpft und aus meinen Genoss*innen. Aus diesem Grund sehe ich es als meine Pflicht, ihren Kampf fortzusetzen, sie weiter zu beleben und der Welt von ihnen zu erzählen. Vielleicht kann es schwierig sein, meine Erlebnisse in Worten auszudrücken. Denn jede Sekunde davon ist es wert, über sie einen Film zu drehen oder ein Buch zu schreiben. Sowohl für die Bewegung als auch für meine Genoss*innen und für die Menschheit werde ich mein Leben immer diesem Geist entsprechend führen.
Mein Ziel ist es, den nächsten Generationen so viel wie möglich zu hinterlassen, besonders den Frauen. Denn wir sind Menschen, wir existieren heute und morgen schon nicht mehr. Dann gibt es eine nächste Generation. Es ist mein Ziel, die Erzählungen über diese Genoss*innen den nachkommenden Generationen als ein Erbe zu hinterlassen. Diese Schwierigkeiten im Krieg haben mir ein Geheimnis offenbart: Man muss bescheiden sein und soll nicht nur an sich selbst denken. Denn ich muss in jeder Zelle von mir den Kampf von Tausenden von Genoss*innen weiterleben. Es ist sowohl meine Verantwortung als auch meine Aufgabe. Ich hätte auch fallen können, aber ich bin unversehrt geblieben. Daher ist es meine Aufgabe, diese Erlebnisse in die Geschichte aufzunehmen und an die Menschen weiterzugeben. Wenn ich jetzt eine Person bin, muss ich gleichzeitig tausend Personen sein.
Wir wollen mit diesem Interview auch Frauen in Deutschland stärken und diese Kraft weitergeben. Was wir bei uns immer wieder feststellen, ist, dass es schon irgendwie ein Bewusstsein gibt für Sexismus oder Patriarchat und dass es auch eine große Solidarität gab z. B. mit dem Kampf in Kobanê und der Revolution in Rojava, aber dass es nicht dazu führt, dass man sich organisiert. Hast du eine Botschaft oder Worte an Frauen in Deutschland, wie wir diesen Kampf auch als unseren begreifen können?
Ohne Zweifel legt das kapitalistische System die Menschen mithilfe von kleinen Rechten herein. Die Mentalität des Kapitalismus besteht darin, Frauen zu marginalisieren und von sich selbst zu entfremden. Das gilt eigentlich für alle Menschen. Die kapitalistische Mentalität beruht auf solchen Irreführungen. So lässt diese Mentalität den Kampf der Frauen passiv und schwach werden. Frauen dürfen sich davon nicht täuschen lassen. Es ist eine Mentalität, die eine nicht sterben lässt, aber auch nicht richtig leben lässt.
Solidarität ist sehr wichtig zwischen den Völkern, besonders zwischen Frauen. Ich habe es selbst erlebt. Am Anfang war es vielleicht nur eine geistige Solidarität, doch später wurde sie zu einer praktischen. Anstatt auf die Straßen zu gehen und sich mit kleinen Freiheiten und Rechten zufriedenzugeben, muss diese Solidarität tief innen mit der ganzen Seele gelebt werden.
Du hast eben gesagt, dass du dich wie 1000 Personen fühlst. Wir in Europa haben das Problem, dass wir nicht klar sehen oder entscheiden können, wo wir uns einbringen und was wir machen sollen, wie wir eine revolutionäre Politik entwickeln. Wenn du sagst, du fühlst dich wie 1000 Personen, bringt es auch eine Zerrissenheit mit sich oder eher eine Gelassenheit, da man ein Teil dieser Revolution ist?
Ich fühle mich nicht zerrissen, im Gegenteil fühle ich mich noch stärker. Es erfordert Opfer und Kämpfe, für so viele Menschen Verantwortung zu übernehmen. Um das zu tun, muss man über ein Ziel, über einen Glauben verfügen. Wenn das Ziel groß ist, dann wird auch das Leben groß sein. Menschen, die nach einem großen Leben suchen, sind Menschen mit großen Zielen. Das Ziel eines Menschen bringt ihn an viele Orte. Mittlerweile wird das Universum, wird der Mars erforscht. Auch sich selbst zu erforschen, gibt dem Menschen eine unglaubliche Energie.
Besonders im Westen sind radikale Ideen immer weniger geworden. Was hat zum Beispiel Nietzsche gemacht? Er hat sich gegen ein System gestellt. Doch später wurden diese Ideen verzerrt und in die falsche Richtung gelenkt. Sie haben die Ideen von Nietzsche in ihren eigenen Dienst gestellt. Diese Mentalität herrscht am meisten im Westen. Wenn ihr dagegen einen revolutionären Kampf führen wollt, um eine ethisch-politische demokratische Gesellschaft aufzubauen, bedarf es eines Geistes, eines Glaubens. Man muss als Mensch einige Dinge aufgeben. Man darf keinen Tunnelblick haben. Wenn du den Mittleren Osten, Afrika oder Lateinamerika nicht spüren kannst, dann kannst du kein*e Revolutionär*in sein. Das Revolutionär*in-Sein wurde zum Zerfallen gebracht. Revolutionär*in zu sein bedeutet, jeden Menschen zu fühlen und seinen Kampf mitzukämpfen.
Ich habe sehr viel über Frauen geredet, aber ich möchte auch auf Männer eingehen. Schließlich haben wir zusammen gekämpft. Die männliche Mentalität ist eine, die schnell sich selbst verliert und auch im Kampf egoistisch ist. Frauen haben verglichen dazu weichere Züge. Doch im Krieg ist es nicht so. Im Kampf unterscheiden wir nicht zwischen Frauen und Männern, dort müssen wir uns notwendigerweise verteidigen. Das Verantwortungsbewusstsein ist bei Frauen stärker ausgeprägt. In allen Armeen haben sich bisher Männer als die Soldaten betrachtet und keine Frauen gesehen. Dieses Muster haben wir zerstören können.
Wie sorgt ihr dafür, dass ihr diesen Weg weiter geht und er erfolgreich ist? Wir erleben viele Rückschritte in den Frauenbewegungen, im Feminismus. Und wie nehmt ihr dabei die Männer mit?
Ich möchte mit der letzten Frage anfangen. Wir nehmen den Mann mit der männlichen Mentalität nicht an. Auch der Mann wurde versklavt. Wir haben es mit einem widerspenstigen, egoistischen männlichen Charakter zu tun. Wir führen diesen Kampf aber gleichzeitig, um diesen Charakter zu zerstören und den Mann zu verändern, einen neuen Mann zu erschaffen.
Zur anderen Frage: Es ist wichtig, aus dieser passiven Haltung herauszukommen und in einen aktiven Kampf zu gehen. Außerdem ist es wichtig, die Gesellschaft zu organisieren. Drittens dürfen die kleinen Freiheiten nicht akzeptiert werden, durch die der Kapitalismus die Menschen hereinlegt, sie von ihren Zielen abbringt und aufgeben lässt. Wenn heute ein Volk, eine Gruppe unterdrückt und geleugnet wird, kann es morgen auch jede andere treffen. Deshalb muss man immer ganzheitlich denken. Es kann nicht revolutionär sein, zu sagen: »Ich kann hier heute gemütlich sitzen, während es anderen schlecht geht.« Es kann sein, dass man in Sicherheit ist und die eigene Identität nicht gefährdet ist, aber es kann schon morgen soweit sein, dass es eine*n auch selbst trifft. Man darf nicht auf der elitären Ebene bleiben, sondern muss in den Kern der Gesellschaft eindringen. Es ist essentiell, die Gesellschaft im Kern zu organisieren. Denn Völker sind stärker als Staaten. Die Staaten bauen sich auf Gesellschaften, auf dem Volk auf. Wenn sie nicht existieren, existiert auch der Staat nicht. Deshalb ist vor allem die Solidarität der Völker, der Jugend und der Frauen so wichtig, deshalb muss man sich organisieren. Ich habe es auch in der Kobanê-Phase gesagt: Frauen können verschiedenfarbige Augen haben, aber ihre Tränen tragen denselben Schmerz in sich.
Wie ist dein Blick auf Kobanê einige Jahre später? Und wie ging es danach für dich weiter?
Nach dem Widerstand von Kobanê habe ich mich noch sehr lange dort aufgehalten. Ich führe meinen Kampf heute noch stärker. Ich habe Kobanê auf seinem Höhepunkt erlebt. Ich erinnere mich an eine Phase vor den Angriffen von Daeş und an eine zweite Phase nach dem Angriff und eine des Wiederaufbaus. Ich sehe Kobanê nicht mehr nur als eine Stadt. Sie ist universell geworden. Es hätte jede andere Stadt sein können. Ich glaube daran, dass Kobanê viele Menschen, viele Frauen inspiriert hat. Es ist wichtig, dass diese Inspiration, diese Hoffnung nicht verloren geht. Beim Wort »Kobanê« denken Menschen als erstes an Frauen. Es ist ein Frauenkampf des 21. Jahrhunderts. Es ist für mich eine Ehre, wenn dieser Kampf so viele Frauen inspirieren und so vielen Menschen ein Licht schenken konnte.
Ich möchte eine Anekdote mit euch teilen. Am 15. Oktober, kurz nachdem der Widerstand von Kobanê angefangen hatte, waren wir einmal in einer sehr schwierigen Situation. Eine Freundin fragte mich: »Heval, was machen wir jetzt?« Ich fand damals keine eindeutige Antwort und habe deswegen eine Geste gemacht. Ich habe meine Hand schrittweise geöffnet und immer gefragt, ob eine Hand so gehalten werden kann. [Anm. der Übersetzung: Sie hat viel mit den Händen gestikuliert, es ist schwer wieder zu geben.]
Warum erzähle ich euch diese Geschichte? Weil es wichtig ist, die Hoffnung, den Willen, den Glauben an alles beizubehalten. Weil ich in diesem Moment im Gesicht dieser Kämpferin eine Hoffnungslosigkeit gesehen habe. Aber manchmal kann selbst ein so kleiner Moment Unglaubliches bewirken. Wir hatten damals Freund*innen, die 24/7 nicht mehr schliefen. Kann man sich das vorstellen? Normalerweise glaubt man es nicht, dass Menschen tagelang nicht schlafen. Doch der Mensch hat so viele Wunder in sich noch nicht entdeckt. Deshalb ist es wichtig, den Kampf immer permanent zu halten. Es ist außerdem wichtig, alle Menschen zu erreichen und ansprechen zu können. Es ist wichtig, den Menschen fühlen zu können, wenn man mit ihm etwas macht.
Von welchen Frauenbewegungen erhältst du heute Inspiration? Auf welche anderen Frauenbewegungen sollten wir heute schauen?
Wir haben die Geschichte von vielen Frauenkämpfen untersucht, von russischen Frauen oder französischen, wie sie Widerstand geleistet haben. Wir haben auch ihre Geschichte untersucht und analysiert. Wir haben viele verschiedene Frauenbewegungen, kurdische, sozialistische, muslimische, zusammengetan und analysiert, und daraus ein Resultat entwickelt. Alle haben sowohl ihre Legitimationen als auch ihre Fehler. Jede Phase hat einen Geist. Sie haben ihre Kämpfe diesem Geist entsprechend geführt. Wir müssen genau untersuchen, wie wir diese Kämpfe heute anschauen und anwenden können, da sie vielleicht nicht unserer heutigen Zeit angemessen sind. Wir müssen diese Teile zusammenfügen und verbinden.
Ein Beispiel: Die demokratische Moderne ist ein Geist. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie dieser Geist aufgebaut werden kann. Es gibt einen Funken auf der Welt, der muss nur herausgebildet werden. Dabei reicht nicht ein einziger Aufstand, eine einzige Demonstration. Es braucht mehr Analyse, mehr Solidarität; wir müssen in die untersten Zellen eindringen und sie entwickeln.
Es gibt Frauen in Indien, in Pakistan, in Afghanistan, in Kuba, in Mexiko. Als ich in Kobanê war, habe ich ihnen Grußbotschaften geschickt, und ich bin mir sicher, dass ihr da, wo ihr hingeht, auf der ganzen Welt diesen Frauen unsere Grüße weiterleitet und ihnen sagt, dass wir mit ihnen kämpfen. Wir haben uns vielleicht nicht gesehen oder kennen uns nicht, aber wir teilen auch ihre Probleme und leben sie auch. Wir beobachten diese Frauenkämpfe und wünschen uns auch, dass sie unsere Kämpfe sehen.
Es ist schön, wie du diese Frage beantwortest, weil wir an der Frage merken, dass wir uns in Deutschland mit einem eurozentristischen Blick oft an anderen Bewegungen orientieren wollen. Oft suchen wir uns irgendwelche Bewegungen, die wir uns zu Vorbildern machen wollen, um dann aber wieder zu schauen, wie wir uns davon abgrenzen können ...
Ich sage all das nicht einfach so. Wenn Menschen mich nach meiner Inspiration fragen, sage ich, dass ich sie von all den Menschen habe, deren Herz für die Freiheit schlägt. Wenn eine Frau in Afghanistan zum Beispiel vergewaltigt wird und ich das hier nicht fühlen kann, dann bedeutet es, dass ich keinen Frauenfreiheitskampf führe. In erster Linie kämpfe ich als kurdische Frau, aber ich kämpfe für alle Frauen auf der Welt, mit all meinen Möglichkeiten. Als zum Beispiel die Frauen im Iran ihre Kopftücher heruntergerissen haben, hat mir das Stärke gegeben. Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit und wird mit dem Geist vervollständigt, nicht nur in Worten, sondern auch praktisch.[1]