Die Journalistin Medya Doz hat YPJ-Kämpferinnen in der Endphase der Offensive gegen die letzte #IS#-Enklave al-Bagouz begleitet. Sie beschreibt die IS-Frauen, denen sie in der ostsyrischen Wüste begegnet ist.
In jüngster Zeit haben wir eine der herausragenden Entwicklungen der letzten Jahrhunderte erlebt. Der IS ist in seiner letzten Stellung al-Bagouz unter der Führung von Frauen besiegt worden. Möglich wurde es durch die Frauenverteidigungseinheiten YPJ, die zum Symbol für den Kampf zur Beseitigung dieses Albtraums geworden sind. Bei der Beobachtung der YPJ-Kämpferinnen, die selbst im Wüstensturm mit ihren lachenden Gesichtern und glänzenden Augen einen sauberen und ordentlichen Eindruck machen, werden die Einzelheiten dieser letzten Phase der Offensive gegen den IS offensichtlich. Diese Kämpferinnen haben die Aufgabe übernommen, die Revolution von Rojava aufzubauen. Wie bei allen Aktivitäten sind sie auch in der Offensive gegen den IS an vorderster Front vertreten. Wer sich mit ihnen bewegt, bekommt alle Einzelheiten mit. In dieser letzten Phase sind täglich Tausende Frauen gerettet worden. Das soziale Leben jeder Einzelnen ist mit seiner Gefühls- und Gedankenwelt eine einzige Ruine.
Hunderte schwarz verhüllte Frauen sitzen inmitten einer Wüste, als ob sie aus einer schwarzen Wolke am Himmel auf den Erdboden aufgeschlagen sind. Ihr Anblick verschlägt einem den Atem.
„Es hieß, das Leben im Islamischen Staat ist bequem“
Zwei der Frauen aus dieser Kolonne wecken meine Aufmerksamkeit. Ich trete näher und versuche, die Situation zu begreifen. Beide können nicht laufen. Eine stammt aus Tadschikistan. Sie ist eine alte Frau, zuckerkrank, alle ihre Zähne sind aus Gold. Wie sie selbst sagt, ist ihr Sohn in Syrien zum „Märtyrer“ geworden. Weil sie sich nicht selbst versorgen kann, fragt sie die YPJ-Kämpferinnen nach Hilfe. Die YPJ-Kämpferinnen fragen: „Tante, warum bist du hierhergekommen?“ Sie antwortet: „Es hieß, dass das Leben im Islamischen Staat in Syrien bequem ist, deshalb sind wir gekommen.“ Ein bequemes Leben?!
Während die YPJ-Kämpferinnen ihr helfen, sehe ich sie voller Hass an und denke darüber nach, wessen Blut für ihre Goldzähne vergossen worden sind. Ich kann mich nicht erinnern, eine Frau jemals so gehasst zu haben. Ich verspüre nicht einen Funken Mitleid mit dieser Frau, die ganz aus Tadschikistan gekommen und gedacht hat, sie könne hier bequem leben, indem sie das Leben anderer zerstört. Ich denke sogar, dass sie es verdient hat, jetzt in dieser Situation zu sein. Man kann hier nicht objektiv und unparteiisch sein. Auf merkwürdige Weise zwingen dich deine Gefühle und Gedanken, Partei zu ergreifen. Dein Wahrheits- und Gerechtigkeitsgefühl machen dich parteiisch.
Die vom IS erschaffene soziologische Realität ist noch nicht definiert
Etwas weiter vorne ist eine Frau aus Tunesien. Ein Arzt und die YPJ-Kämpferinnen reden seit Stunden auf sie ein, damit sie eine medizinische Behandlung akzeptiert. Die Frau lehnt stur ab, sie sagt auch ihren Namen nicht. Vermutlich hat sie aktiv am Krieg teilgenommen und ist ein radikales IS-Mitglied. Sie hat ein Bein verloren, am anderen Bein droht Wundbrand. Jason, ein Arzt der Hilfsorganisation Good Life Club, müht sich seit Stunden mit der Frau ab. Weil er sie nicht überzeugen kann, bittet er die YPJ-Kämpferinnen um Unterstützung. Sie sprechen die Frau erst auf Englisch und dann auf Arabisch an. Sie sagt leise: „Mein Mann ist Arzt, deshalb ist ihm nicht erlaubt worden, al-Bagouz zu verlassen. Ohne seine Erlaubnis darf mich kein Mann berühren, selbst wenn es zur medizinischen Behandlung ist.“ Uns packt das Grauen. Was für ein blinder Glauben, der dem Menschen in jeder Form das Leben nimmt. Sie haben in festem Glauben gemordet und sie sterben mit ihrem Glauben. Man findet keinen Ausdruck für die Tragödie dieser Frauen, deren Leben vom Wort eines Mannes abhängt. Jason kneift die Augen zusammen und holt tief Luft. „Sie lieben das Leben und die Menschen nicht, sie lachen nicht“, sagt er und ringt die Hände. Dann weist er auf die YPJ-Kämpferinnen und sagt: „You are always smiling.” Der Arzt zeigt nur die Gegensätze auf, denen er begegnet. Die soziologischen Hintergründe hat er noch nicht begriffen. Mir wird klar, dass die vom IS erschaffene Soziologie noch nicht definiert worden ist und dringender Bedarf nach einer Beschreibung besteht.
Objekte im Leben von Männern
Ich beobachte seit einer ganzen Weile die aus den Händen des IS geretteten Frauen. Die Brüder, Ehemänner, Väter und Söhne der meisten von ihnen sind IS-Mitglieder. Die Lebensgeschichten dieser Frauen sind von den Männern in ihrem Umfeld geformt worden. Eigentlich haben sie gar keine eigene Geschichte. Sie leben als Objekte der Geschichte von Männern.
Wenn man diese IS-Dschihadisten mit ihrem grauenhaften Aussehen, ihren seelenlosen Blicken und ihren jederzeit zum Mord bereiten Händen anschaut, kommt man nicht umhin sich zu fragen, wie etwas so Hässliches von einer Frau zur Welt gebracht werden konnte. Danach zwingt man sich, auf die These zurückzugreifen, dass jeder Mensch bei seiner Geburt unschuldig ist und das Gute und das Schlechte im Menschen erst mit der Zeit wächst. Ansonsten graben sich im Kopf Zweifel ein an allem, was schön, gut und richtig ist.
Ich versuche eine Bezeichnung für die vom IS geschaffene Frauenrealität zu finden, aber es gelingt mir nicht. Der IS hat eine undefinierte Gemeinschaft ohne gesellschaftliche Eigenschaften aus schwarz verhüllten Frauen und den Kindern in ihren Armen geschaffen. Jedes Kind, das du nach seinem Vater fragst, kennt ihn entweder nicht oder sagt, dass er tot ist. Jede Frau hat drei bis vier Mal geheiratet, alle haben ihre Männer zwei oder drei Mal im Krieg verloren, und sie haben wieder und wieder geheiratet. So ist das mit der Scharia.
Mit religiösen Pinseln angemalte Materie
Schließt eure Augen für zwei Minuten und stellt euch Tausende Kinder in einer entlegenen Wüste vor, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen sind… Stellt euch Tausende Frauen vor, deren Geist und Körper benutzt worden und die in jeder Hinsicht verbraucht sind… Beim Anblick mancher Kinder bist du schockiert. Die Frau ist Russin, der Vater eines ihrer Kinder ist Usbeke, der eines anderen Kindes Araber und der des nächsten Tschetschene… Sie sitzen im Schoß einer einzigen Frau. Das Kind einer ezidischen Mutter spricht Russisch, das Kind einer kanadischen Mutter kann nur Arabisch. Nichts passt zueinander, alles treibt in einem merkwürdigen Strudel. Mir wird übel angesichts der Sinnlosigkeit, als eine türkische Frau die Chronologie ihrer fünf Ehen in den letzten drei Jahren aufzählt. In der Liste ihrer „Gatten“, wie sie sie nennt, finden sich ein Afghane, ein Inder, ein Deutscher, ein Kurde und ein Tunesier. Mir fällt kein soziologischer Begriff dazu ein. Liebe kommt darin nicht vor, keine seelische oder körperliche Entscheidung, keine sexuelle Würde… Eigentlich überhaupt nichts. Kein eigener Wille, Lieblosigkeit bis zum Äußersten, eine hässliche und herabgewürdigte Sexualität. Mit religiösen Pinseln angemalte Materie ohne einen Hauch von ideeller Bedeutung…
Und doch tun einem diese Frauen leid, deren Köpfe und Herzen von den hässlichsten Männern der Welt in diese Lage gebracht worden sind. Etwas, das sie „Ich“ nennen können, ist ihnen nicht geblieben. Sie gehören allen, nur nicht sich selbst.
Die Lachenden haben den Krieg gewonnen
Beim Anblick dieser schwarz verhüllten Witwenarmee kann man Hunderte Analysen anstellen. Die Terrororganisation IS hat nicht nur Land besetzt, sie hat die Chemie der Gesellschaft zerstört, indem sie die Frauen besetzt hat. Sie hat nicht nur historische und kulturelle Phänomene angegriffen, es ist ihr gelungen, eine künstliche Auffassung zu schaffen und jedes Subjekt zu einem Objekt zu machen. Mit großer Meisterhaftigkeit hat sie aus Frauen eine seelenlose Gemeinschaft geschaffen und damit einen Feminizid begangen. Wie ich oben erwähnt habe, die vom IS kreierte Realität bedarf einer soziologischen Analyse und Definition. Vermutlich brauchen einige Definitionen Zeit, im Moment kann man nur Vergleiche anstellen. Der Vergleich zwischen denen, die lachen, und denen, die nicht lachen… Zwischen denen, die sprechen, leben und lieben, und denen, die schweigen, nicht lieben und sich auf jede Weise dem Tod gewidmet haben… Unser einziger Trost ist, dass die, die lachen, diesen Krieg gewonnen haben… Nur diese Frauen, die den Willen und die Kraft aufgebracht haben, den Krieg zu gewinnen, können bestimmte Themen beleuchten, die sich nicht beschreiben lassen. Meine Erwartung ist, dass die Kämpferinnen dieses Landes zu einem späteren Zeitpunkt einen Ausdruck finden für die vom IS geschaffene Frauenrealität. Ich hoffe es.
Mit der Entwicklung einer richtigen soziologischen Analyse mit der von der Jineoloji erschaffenen freien Sichtweise wird deutlich werden, wogegen und wie dieser Kampf geführt wird. Letztendlich lernt der Mensch sich selbst besser kennen, wenn er das Unmenschliche analysiert…
Um die verdunkelte Seele einer Frau zu erhellen, braucht es Zeit. Ich glaube daran, dass die Frauen, die Schritt für Schritt ihre Freiheit weben, diesen gordischen Knoten lösen werden. So sehr wie an nichts anderes auf dieser Welt glaube ich an die Hände dieser Frauen, die für Freiheit kämpfen…[1]