Vertreter:innen kurdischer Organisationen haben in Lausanne über die vor hundert Jahren beschlossene Teilung Kurdistans diskutiert. „Dieses historische Unrecht muss korrigiert werden“, hieß es bei der Vorstellung der Diskussionsergebnisse.
In Lausanne sind die Ergebnisse der zweitägigen Konferenz im Kongresszentrum Beaulieu, die von kurdischen Vertreter:innen anlässlich des 100. Jahrestages des Lausanner Vertrags organisiert wurde, bekannt gegeben worden. An der Konferenz, die am Wochenende unter dem Motto „Wir Kurd:innen sind am 100. Jahrestag des Vertrags von Lausanne hier und weisen das Abkommen zurück stattfand, nahmen mehr als 600 Delegierte aus den vier Teilen Kurdistans teil. Die Abschlusserklärung wurde auf einer Pressekonferenz vor dem Château d’Ouchy vorgestellt.
In der Abschlusserklärung wird zum Ausdruck gebracht, dass der #Vertrag von Lausanne# gegen den Willen und die Akzeptanz des kurdischen Volkes unterzeichnet wurde und die Kurd:innen seit hundert Jahren dagegen ankämpfen. Vor der Verlesung der Erklärung bedankten sich die Organisator:innen der Konferenz bei dem Bürgermeister von Lausanne, Grégoire Junod, für seine Unterstützung. Ahmet Karamus, Ko-Vorsitzender des KNK (Nationalkongress Kurdistan), sagte einleitend: „Vier Tage lang haben Vertreterinnen und Vertreter kurdischer Parteien mit Intellektuellen und Kunstschaffenden in Lausanne über diesen Vertrag diskutiert. Auf der Konferenz wurde eine breite juristische und politische Debatte über die Folgen des Abkommens geführt. Das Schicksal des kurdischen Volkes hat vor hundert Jahren eine entscheidende Wendung vollzogen. Wir, das kurdische Volk, sind hier, um dieses historische Unrecht zu korrigieren.
Die Ko-Vorsitzende Zeyneb Murad sagte: „Als Ergebnis des Kampfes des kurdischen Volkes sind wir heute hier und verschaffen unserer Stimme in der Welt Gehör. Unser Volk leistet seit hundert Jahren in den vier Teilen Kurdistans Widerstand. Es leistet Widerstand, um sein Land und seine Identität zu verteidigen. Es leistet Widerstand für Demokratie und Frieden.“
Die Abschlusserklärung enthält Vorschläge und Beschlüsse, die sich auf die regionale, nationale und internationale Ebenen beziehen.
$International$
1. Unterstützung kurdischer zwischenstaatlicher Organisationen in den Ländern, unter denen Kurdistan aufgeteilt wurde, damit das Recht auf Selbstbestimmung verwirklicht werden kann.
2. Einrichtung einer internationalen Kommission im Rahmen der Vereinten Nationen (UN), der auch Vertreter: innen Kurdistans angehören. Diese Kommission sollte sich bei den Vertragsparteien von Lausanne für eine friedliche und dialogorientierte Lösung der sogenannten kurdischen Frage einsetzen.
3. Aufnahme der Kurd:innen als Beobachter in die Vereinten Nationen.
4. Die Staaten, die Kurdistan geteilt haben, müssen vor einem zwischenstaatlichen Gericht für ihre Verbrechen gegen das kurdische Volk belangt werden.
5. Gründung einer gemeinsamen kurdischen Organisation, um diplomatische Arbeit auf internationaler Ebene zu leisten.
6. Die Länder, die den Vertrag unterzeichnet haben, sollten für die Verbrechen Entschädigungen zahlen. Dem kurdischen Volk muss garantiert werden, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Unterstützung des Verbots und der Bestrafung von internationalen Verbrechen.
7. Erklärung einer Flugverbotszone über Rojava im UN-Sicherheitsrat. Unterstützung kurdischer Kräfte und zwischenstaatlicher Friedenstruppen zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung an der Grenze zwischen Rojava und der Türkei.
8. Appell an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um Druck auf die Türkei auszuüben, damit sie die politischen Gefangenen in der Türkei freilässt.
$Kurdistan$
1. Dem Schutz und der Entwicklung der nationalen Interessen Kurdistans wird Vorrang vor allen persönlichen und politischen Interessen eingeräumt.
2. Vermeidung interner politischer Widersprüche und das Bestreben, interne Widersprüche zu lösen.
3. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der verschiedenen Teile Kurdistans und Schutz der Regierungen der Region Kurdistan [Kurdistan-Region Irak] und von Rojava. Beseitigung aller Hindernisse zwischen den politischen Führungen von Südkurdistan und Rojava und die Aufnahme von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen ihnen.
4. Schaffung einer Nationalen Union Kurdistans unter Beteiligung aller nationalen Dynamiken.
5. Anlässlich des 100. Jahrestages des verhängnisvollen Vertrages von Lausanne ruft die Konferenz das gesamte kurdische Volk und die Verantwortlichen der Völker Kurdistans auf, ihre nationale Aufgabe zu erfüllen und eine Allianz zu bilden. Dafür muss eine nationale Kurdistan-Konferenz einberufen werden.
6. Schutz des Zusammenlebens aller in Kurdistan lebenden Minderheitenvölker.
7. Betonung der Freiheit von Frauen im Rahmen der Koexistenz.
Regional (Türkei, Syrien, Iran, Irak)
1. Namentliche Benennung Kurdistans in den Staaten Türkei und Syrien und Anerkennung des Status, der in dem jeweiligen Teil Kurdistans festgelegt wird.
2. Offizielle Anerkennung des autonomen Status Kurdistans in den Vereinten Nationen
3. Einrichtung einer internationalen Kommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, der auch Vertreter:innen des kurdischen Volkes angehören, um im Kontakt mit den Vertragsstaaten von Lausanne friedliche und dialogische Wege zu finden und Lösungsstrategien umzusetzen
4. Einrichtung einer Koordinierungskommission, um die Forderungen der Konferenz zu erfüllen
5. Einrichtung und Ernennung einer Fachkommission für gemeinsame Diplomatie in Kurdistan
6. Anstrengungen, um die Vertretung Kurdistans in den Vereinten Nationen sicherzustellen
7. Einrichtung einer Expertenkommission, die die Ergebnisse der Konferenz weiterverfolgen und in die Praxis umsetzen
8. Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu allen Staaten, die Parteien des Lausanner Vertrages sind, mit Ausnahme der Republik Türkei, und die Forderung nach Entschädigung für das historische Unrecht an der Bevölkerung Kurdistans
9. Es wird aktiv auf den Abschluss eines alternativen internationalen Vertrages hingearbeitet
10. Die türkische Regierung wird aufgefordert, ihre Versprechen gegenüber Nicht-Muslim:innen ohne Diskriminierung zu erfüllen
11. Die Ezid:innen sind ein wesentlicher Bestandteil des kurdischen Volkes. Sie sollten als „nicht-muslimische Minderheit anerkannt werden. Die den Griech:innen, Armenier:innen, Assyrer:innen und Chaldäer:innen gewährten Rechte sollten auch den Ezid:innen, Yareser:innen und alevitischen Kurd:innen gewährt werden.
12. Die Regierung der Region Kurdistan und die Verwaltung von Rojava werden aufgefordert, ein spezielles Büro für die Folgen des Vertrags von Lausanne und die Entschädigung von Missständen einzurichten.
13. Gründung einer gemeinsamen diplomatischen Organisation Kurdistans zur gemeinsamen Pflege der internationalen Beziehungen.
14. Die Konferenz fordert die bedingungslose Freilassung aller politischen Geiseln und Gefangenen des türkischen Staates, insbesondere von Abdullah Öcalan.
15. Die Vereinten Nationen werden ersucht, eine Friedenstruppe in das Grenzgebiet zwischen Rojava und der Türkei zu entsenden.
16. Die Vereinten Nationen werden aufgefordert, innerhalb ihrer Organisation ein Büro für die Vertretung Kurdistans einzurichten.[1]