Lesetipp des Kurdistan Report aus dem dritten Band von #Abdullah Öcalan# »Soziologie der Freiheit«
Hamburg: Freiheit für Öcalan | Foto: anfRadikale Demokratie, ökologisches Bewusstsein und Frauenbefreiung – drei Schlagwörter, die viele Menschen aufgrund der vielen Konflikte nur selten mit der Region des Mittleren Ostens in Verbindung bringen. Doch im Norden Syriens, auch als Rojava bekannt, wird ein Gesellschaftskonzept umgesetzt, dass eben genau auf diesen Grundpfeilern beruht. Die dahinter steckende Theorie ist als demokratischer Konföderalismus bekannt und geht auf das Ideenmodell des seit 1999 inhaftierten Gründers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan zurück.
Der demokratische Konföderalismus steht nicht nur für den Widerstand gegen das herrschende Chaos im Mittleren Osten, er steht auch für den Aufbau einer gesellschaftlichen Alternative. Im Mai 2020 erschien mit »Soziologie der Freiheit« der dritte Band von Abdullah Öcalans »Manifest der demokratischen Zivilisation« im Unrast Verlag. In diesem Band konkretisiert Öcalan sein politisches Lösungskonzept nicht nur für die kurdische Frage, sondern für die drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts.
Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug zu dieser Thematik, die den universalistischen Anspruch von Öcalan deutlich zum Ausdruck bringt:
Die demokratische Moderne antwortet auf die Homogenisierung (Uniformierung), die Herden- und die Massengesellschaft, die der moderne Nationalstaat auf dem Wege erreichen will, den er mit der universalistischen, linear-progressistischen und deterministischen Methode (Methodenverständnis, das sich Wahrscheinlichkeiten und Alternativen verschließt) vorgezeichnet hat, mit pluralistischen, probabilistischen, für Alternativen offenen und die demokratische Gesellschaft sichtbar machenden Methoden. Sie entwickelt ihre Alternative durch ihre für verschiedene politische Strukturen offenen, multikulturellen, Monopolisierung ausschließenden, ökologistischen und feministischen Wesenszüge und eine wirtschaftliche Struktur, die grundlegende gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllt und auf gemeinschaftlicher Kontrolle beruht. Die politische Alternative der demokratischen Moderne zum Nationalstaat der kapitalistischen Moderne ist der demokratische Konföderalismus.
Die Eigenschaften des demokratischen Konföderalismus können wir kurz folgendermaßen darstellen:
a) Der demokratische Konföderalismus ist verschiedenen und mehrstufigen politischen Strukturen gegenüber offen. Die komplizierte Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft erfordert verschiedene horizontale und vertikale politische Strukturen. Er hält zentrale, lokale und regionale politische Strukturen innerhalb eines Gleichgewichts beieinander. Pluralistische politische Strukturen sind besser geeignet, die richtigen Lösungswege für gesellschaftliche Probleme zu finden, weil sie jeweils auf konkrete Bedingungen antworten. Kulturelle, ethnische und nationale Identitäten besitzen das natürliche Recht, sich in politischen Strukturen auszudrücken. Besser gesagt: es ist ein Erfordernis der moralischen und politischen Gesellschaft. Er ist offen für prinzipientreue Übereinkommen mit der staatlichen Tradition, ob in der Form des Nationalstaats, der Republik oder der ›bürgerlichen Demokratie‹. Auf Grundlage eines Friedens mit Prinzipien können sie koexistieren.
b) Er beruht auf der moralischen und politischen Gesellschaft. Gesellschaftsformen, die kapitalistische, sozialistische, feudale, industrialistische, konsumistische und andere schablonenhaften Projekte wie Social Engineering beinhalten, betrachtet er im Zusammenhang mit den kapitalistischen Monopolen. Derartige Gesellschaften existieren im Grunde nicht, es gibt nur ihre Propaganda. Gesellschaften sind grundsätzlich politisch und moralisch. Wirtschaftliche, politische, ideologische und militärische Monopole sind Apparate, die an dieser fundamentalen Natur der Gesellschaft nagen und dabei hinter Mehrwert und sogar gesellschaftlichen Tributen her sind. Sie besitzen an sich keinen eigenen Wert. Selbst eine Revolution kann keine neue Gesellschaft erschaffen. Revolutionen können nur dann eine positive Rolle spielen, wenn sie als Operation daherkommen, um das erodierte und ungenutzt gelassene moralische und politische Gewebe wieder seiner eigentlichen Funktion zuzuführen. Alles Weitere bestimmt der freie Wille der moralischen und politischen Gesellschaft.
c) Der demokratische Konföderalismus beruht auf demokratischer Politik. Im Gegensatz zum starr zentralistischen, geradlinigen, bürokratischen Regierungs- und Verwaltungsverständnis des Nationalstaates realisieren alle gesellschaftlichen Gruppen und kulturellen Identitäten die Selbstverwaltung der Gesellschaft in politischen Strukturen, die sie ausdrücken. Die Angelegenheiten auf verschiedenen Ebenen werden durch Leitungen erledigt, die nicht durch Ernennung, sondern durch Wahl ins Amt kommen. Eigentlich geht es um die Fähigkeit, in Räten Diskussionen zu führen und Entscheidungen zu fällen. Herumkommandierende Führung ist abgeschafft. Von einem allgemeinen Koordinatioonsgremium (Rat, Kommission, Kongress) bis zu lokalen Gremien entsteht die demokratische Leitung und Kontrolle der gesellschaftlichen Angelegenheiten durch einen Strauß von Gremien aller Gruppen und Kulturen, die ihrer Konstitution gemäß und verschieden strukturiert die Einheit in der Verschiedenheit suchen.
d) Der demokratische Konföderalismus beruht auf Selbstverteidigung. Die Selbstverteidigungseinheiten sind die grundlegende Kraft, jedoch nicht als militärisches Monopol, sondern unter der strengen Kontrolle der demokratischen Organe gemäß der Bedürfnisse der Gesellschaft nach innerer und äußerer Sicherheit. Ihre Aufgabe als freie und auf der Grundlage von Vielfalt egalitäre Entscheidungsstruktur der moralischen und politischen Gesellschaft ist es, den Willen der demokratischen Politik durchzusetzen. Und es ist ihre Aufgabe, die Interventionen von Kräften unschädlich zu machen, die von innen und außen diesen Willen ignorieren, behindern und zu vernichten trachten. Die Kommandostruktur der Einheiten befindet sich unter der doppelten Kontrolle sowohl der Organe der demokratischen Politik als auch der Mitglieder der jeweiligen Einheit und kann bei Bedarf durch Anträge und Abstimmungen leicht geändert werden.
e) Im demokratischen Konföderalismus ist kein Platz für Hegemoniestreben im Allgemeinen und ideologisches Hegemoniestreben im Besonderen. Das Prinzip der Hegemonie gilt in den klassischen Zivilisationen. In demokratischen Zivilisationen und in der demokratischen Moderne werden hegemoniale Kräfte und Ideologien nicht toleriert. Wenn sie die Grenzen der Rede und der demokratischen Verwaltung überschreiten, werden sie durch die Selbstverwaltung und die Redefreiheit neutralisiert. Bei der kollektiven Leitung der gesellschaftlichen Angelegenheiten gelten die Bedingungen des gegenseitigen Verständnisses, Respekts vor abweichenden Vorschlägen und der Loyalität auf der Grundlage demokratischer Entscheidungen. Während sich bei diesem Thema das Leitungsverständnis der klassischen Zivilisation und der kapitalistischen Moderne mit demjenigen des Nationalstaates decken, gibt es große Unterschiede und Gegensätze zum Leitungsverständnis der demokratischen Zivilisation und Moderne. Ein grundlegender Unterschied ist die bürokratische, willkürliche Verwaltung auf der einen Seite und der demokratisch-moralische Führungsstil auf der anderen. Im demokratischen Konföderalismus kann es keine ideologische Hegemonie geben. Es gilt der Pluralismus zwischen verschiedenen Ansichten und Ideologien. Die Leitung hat kein Bedürfnis, sich durch eine ideologische Tarnung zu stärken. Daher besteht kein Bedarf an nationalistischen, religionistischen, positivistisch-szientistischen, sexistischen Ideologien, und auch die Errichtung jeder Hegemonie wird abgelehnt. Solange die moralische und politische Struktur der Gesellschaft nicht verletzt wird, Hegemonie nicht angestrebt wird, solange besitzt jede Ansicht, jeder Gedanke und jede Glaubensüberzeugung das Recht, frei ausgedrückt zu werden.
f) Gegenüber dem Verständnis vom Zusammenschluss der Nationalstaaten zu Vereinten Nationen, die sich unter der Kontrolle der SuperHegemonialmacht befinden, befürwortet der demokratische Konföderalismus eine ›Globale Demokratisch-Konföderale Union nationaler Gesellschaften‹. Für eine sicherere, friedlichere, ökologischere, gerechtere und produktivere Welt brauchen wir einen quantitativ und qualitativ verstärkten Zusammenschluss viel breiterer Gemeinschaften nach den Kriterien der demokratischen Politik in einer ›Globalen Demokratischen Konföderation‹.
Zum Schluss: Die Unterschiede und Gegensätze zwischen kapitalistischer Moderne und demokratischer Moderne, die wir noch sehr viel länger vergleichen könnten, bestehen nicht nur als Idee, sondern äußern sich konkret in zwei riesigen bestehenden Welten. Diese beiden Welten, die einander durch die Geschichte hindurch als dialektische Gegensätze manchmal gnadenlos bekämpften, oft aber auch friedlich miteinander koexistierten, stehen auch heute in ähnlicher Weise mit ihren Beziehungen und Widersprüchen manchmal in Konflikt und schließen manchmal Frieden. Den Ausgang werden zweifellos diejenigen bestimmen, die in der gegenwärtigen systemischen, strukturellen Krise im intellektuellen, politischen und ethischen Bereich den Aufbruch hin zum Guten, Wahren und Schönen unternehmen.
Aus: Abdullah Öcalan, Gefängnisschriften, Soziologie der Freiheit, Manifest der demokratischen Zivilisation Band III, C Nationalstaat, Moderne und demokratischer Konföderalismus, S.: 286–289.[1]