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Der Schutz kultureller Rechte am Beispiel der „Kurdenpolitik“ der Türkei
Kultureller Rechtsschutz im Völkerrecht und im europäischen Menschenrechtssystem
Am 9. Oktober 2019 begann die türkische Armee, die nördlichen Provinzen Syriens, die auch unter dem kurdischen Namen „Rojava“ bekannt sind, mit Luft- und Artillerieangriffen und später mit dem Einsatz türkischer Bodentruppen und verbündeter islamistischer Milizen anzugreifen. Die türkische Regierung möchte in Nordsyrien nach eigenen Angaben eine sogenannte “Sicherheitszone“ einrichten und syrische Flüchtlinge aus dem Inland dort ansiedeln. Außerdem bekämpft sie die dortigen mehrheitlich aus Kurden bestehenden Streitkräfte – die sogenannten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF bzw. QSD) – die sie als eine „Terrororganisation“ betrachtet.

Dass das Völkerrecht diesen Angriff nicht deckt, ist unbestritten. Das hat nicht nur der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits ausführlich dargelegt. Allerdings muss man sich darüber hinaus eine weitere völkerrechtliche Frage stellen, und zwar, ob die Türkei mit einer demographischen Veränderung, die die Kurden als einen weiteren Angriff auf ihre „kurdische Identität“ bewerten, hier der Beginn eines (kulturellen) Völkermordes stattfindet. Der „kulturelle Völkermord“ verstößt gegen das Völkerstrafrecht und damit gegen das römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs allerdings nur dann, wenn er einen Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 darstellt. Das Völkerstrafrecht kennt allerdings den Tatbestand des kulturellen Völkermordes nicht und auf der Ebene des regionalen Menschenrechtsschutzes übt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht in Zurückhaltung, wenn kollektive Rechte betroffen sind. So entsteht eine gravierende Rechtslücke im Menschenrechtsschutz, die zumindest auf europäischer Ebene dringend geschlossen werden sollte.

Vertreibung der Kurden aus Rojava
Vertreibung bedeutet das gewaltsame Aufzwingen einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile dergestalt, dass diese zum Verlassen ihre Siedlungsgebiete gezwungen werden. Inwieweit das auf die türkische „Kurdenpolitik“ in Syrien zutrifft, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer nachzuweisen. Kritiker befürchten, die türkische Regierung beabsichtige, die Demographie in Nordsyrien so zu verändern, dass sunnitische Araber in Zukunft die Mehrheit in der Region darstellen sollen. Diese fühlen sich in der Regel eher mit der AKP verbunden, da diese ebenso islamisch-konservative Werte vertritt. Die Kurden in Rojava sind demgegenüber für eine moderate islamische Haltung bekannt. Zudem propagiert die einflussreichste Partei in der Region – die PYD – im Vergleich zur AKP besonders progressive Positionen wie z.B. die Parität der Geschlechter, basisdemokratische Herrschaftsstrukturen oder auch ökologische Themen. Eine Vertreibung der Kurden und damit einer Änderung der demographischen Strukturen wäre also ganz im Sinne der AKP-Regierung.

Medienberichten zufolge befinden sich auf Grund der Angriffe der türkischen Armee derzeit bereits 300.000 Menschen auf der Flucht und es sollen bereits einige Zivilisten bei den Auseinandersetzungen in der Türkei und vor allem in Nordsyrien ums Leben gekommen sein.

Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948
Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes wurde nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere aus den Erfahrungen des Genozids an den Armeniern (1915-1916) und dem Holocaust gegenüber den Juden (1941-1945) verfasst.

Völkermord nach Art. II der UN-Völkermordkonvention muss in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Man müsste zunächst also die Frage stellen, ob die türkische Armee beabsichtigt, die Kurden im Sinne der Konvention ganz oder teilweise zu zerstören. Zur Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob „zerstören einer Gruppe“ eng zu verstehen ist, als die physische oder biologische Zerstörung der Gruppe oder ein Spielraum für eine weite Auslegung besteht, dahingehend, dass eine Auflösung bzw. die Zerstörung des kulturellen Lebensraums der Gruppe ausreichen kann.

Nach der allgemeinen Leseart existieren verschiedene Ausprägungen von Völkermord: der physische, biologische, wirtschaftliche, politische und kulturellere Völkermord. Die Merkmale schließen sich dabei nicht aus und können sowohl kumulativ, als auch alternativ begangen werden. Ganz allgemein versteht man unter „kulturellem Völkermord“ oder „Ethnozid“ die Zerstörung einer Gruppe, ohne die Mitglieder dieser Gruppe tatsächlich auszulöschen. Es dient als Abgrenzung zum physischen oder biologischen Völkermord und betrifft hauptsächlich die kulturellen, sprachlichen und existenziellen Aspekte einer Gruppe. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Zerstörung der „kulturellen Identität“ etwa durch Zwangsassimilation.

Die herrschende Auffassung der internationalen Rechtsprechung (vgl. JStGH 2.8.2001 – IT-98-33-T – Prosecutor v. Krstic; Prosecutor v. Jelisic; JStGH 14.12.1999 – IT-95-10-T) setzt „zerstören“ mit dem Tod gleich und versteht darunter die physische oder die biologische Zerstörung der Gruppe, also die Tötung oder schwere körperliche oder seelische Schädigung einer entsprechenden Zahl von Gruppenmitgliedern (Kreß in MüKO, § 6 VStGB, Rn. 72.). So wurde vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) unter Bezug auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ entschieden (vgl. JStGH 2.8.2001 – IT-98-33-T, Nr. 580 – Prosecutor v. Krstic), Völkermord erfasse im Völkerrecht nur Handlungen, die auf die physische oder biologische Vernichtung einer geschützten Gruppe gerichtet seien. Außerdem dient eine historische Auslegung der Vorschrift als Argument für eine restriktive Auslegung des Völkermordtatbestands. Die Ausarbeitung des Vertragsentwurfs erfolgte kurz nach den Erfahrungen mit der NS-Diktatur und war vom physischen Völkermord an den Juden und Sinti und Roma geprägt. So war im Rahmen des Vertragsentwurfs eine wesentliche Streitfrage, ob Völkermord im Sinne des Art. II der UN-Völkermordkonvention auch den „kulturellen Völkermord“ umfassen soll. Die prägende Figur des heutigen Genozidbegriffs war zu jener Zeit der polnisch-jüdischer Jurist und Friedensforscher Raphael Lemkin, der an der Ausarbeitung der Vertragsfassung maßgeblich beteiligt war. Obwohl Raphael Lemkin selbst die Vertragsfassung mit dem Schutz der kulturellen Vielfalt der Menschheit begründet hatte, konnte der „kulturelle Völkermord“ sich letztlich nicht durchsetzen und hat keinen Eingang in den Vertragstext gefunden.

Mit der Vertreibung der Kurden aus Nordsyrien kann die türkische Regierung de lege lata nur schwerlich mit dem Tatbestand des Völkermordes (die Türkei hat ohnehin das Rom-Statut nicht ratifiziert) belangt werden. Die fehlende Einbeziehung eines kulturellen Völkermordbegriffs bringt jedoch das Problem mit sich, dass nur noch die intensivste Art des Völkermords, also die physische oder biologische Zerstörung der Gruppe, für repressiv handelnde Regierungen strafrechtliche Konsequenzen haben kann.

Individueller vs. kultureller Menschenrechtsschutz – Politische Säuberung an den Kurden in der Türkei
Auch die „Kurdenpolitik“ in der Türkei trägt seit Jahrzehnten Anzeichen eines Ethnozids. In der Türkei war die kurdische Sprache bis 1994 offiziell verboten. Zudem dürfen kurdische Städte bis heute ihre kurdische Bezeichnung nicht tragen. Obwohl schätzungsweise 20 Millionen Kurden in der Türkei leben, finden die kurdische Bevölkerung und ihre Sprache in der Verfassung keine Erwähnung. Außerdem gibt es in der Türkei sehr starke Anzeichen für eine politische Säuberung gegenüber kurdischen Parteien und Bestrebungen, die dem Interesse der Kurden dienen sollen. Es sind immer dieselben Anschuldigungen, mit denen kurdische Politiker, Journalisten und Aktivisten konfrontiert werden: „Unterstützung einer Terrororganisation“. Das bekannteste Beispiel ist der ehemalige CO-Vorsitzender der kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, der seit November 2016 im Gefängnis sitzt, davon mehr als 2 Jahre im Untersuchungshaft – laut einem Urteil des EGMR unrechtmäßig. Auch kürzlich wurden gegenüber den derzeitigen Vorsitzenden der HDP Sezai Temelli und Pervin Buldan Ermittlungen wegen „Terrorpropaganda“ eingeleitet, nachdem beide folgenden Aufruf starteten: „Wir fordern jeden dazu auf, sich gegen den von der AKP-MHP Koalition betriebenen Krieg zu stellen. Erheben wir unsere Stimme gegen den Krieg gegen Rojava“. Erst vor einigen Monaten wurden zudem in den drei kurdischen Großstädten Diyarbakir, Mardin und Van drei prokurdische Bürgermeister der HDP abgesetzt. Die Repression gegenüber der kurdischen Bevölkerung ist indes nur das Beispiel, das die meiste Aufmerksamkeit erfährt. Andere ethnische Gruppen wie die Lasen, Tscherkessen, Aramäer und Armenier oder religiöse Gruppen wie die Aleviten, Jesiden oder Christen erfahren eine ähnliche Assimilationspolitik. Nicht umsonst werden die zweithäufigsten Verfahren (nach Russland) vor dem EGMR gegen die Türkei geführt. Die Kurden haben jedoch vor dem EGMR „nur“ die Möglichkeit, den Schutz von individuellen Freiheitsrechten geltend zu machen, kollektive Rechte werden einzig über die Sozialcharta garantiert, kulturelle Rechte genossen bisher kein Schutz.

Anlass zur Veränderung?
Die Frage, ob man den Begriff des Völkermords juristisch weit auslegen sollte erübrigt sich durch den eindeutigen Wortlaut des Art. II der UN-Völkermordkonvention. Eine vertragliche Anpassung bzw. Erweiterung des Völkermordes in der UN-Völkermordkonvention hätte sehr wahrscheinlich wie 1948 keine Mehrheit und wäre gerade wegen der aktuellen Schwäche des IStGH schwer durchsetzbar.

Ein nachhaltiger Schutz von kulturellen Menschenrechten macht daher auf internationale Ebene wenig Sinn und ist daher viel mehr auf regionaler Ebene zu forcieren. Ein sinnvoller Ansatz, um kulturelle Rechte einer Ethnie zu schützen wäre es, wenn z.B. der europäische Menschenrechtsschutz neben Individualrechten vermehrt auch kollektive Menschenrechte wie z.B. der Schutz des kulturellen Lebensraums, Erhalt der Muttersprache, Traditionen und Bräuche etc. Beachtung finden.

Im interamerikanischen Menschenrechtssystem, hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAmGMR) eine sehr progressive Rechtsprechung bezüglich kollektiver Rechte etabliert. Der IAmGMR gestand indigenen Gruppen kulturelle Rechte zu, in dem er z.B. die Bedeutung des traditionell bewohnten Landes für die Integrität, die Kultur und das wirtschaftliche Überleben indigener Gruppen hervorhob oder das Recht auf Eigentum so auslegte, dass es nicht nur individuelle, sondern auch den kollektiven Besitz von Indigenen schützt.

Der EGMR kann richterrechtlich ohne bestehende Kodifikation kaum einen kulturellen Menschenrechtsschutz in Europa etablieren und sollte sich auch nicht selbst als Strafgericht über Staaten aufschwingen (vgl. auch einst P. Aust hier auf dem Blog). Vielmehr ist es Aufgabe der EU und des Europarates, den kulturellen Menschenrechtsschutz auch auf europäischer Ebene zu kodifizieren. Wenn staatliche Angriffe auf kulturelle Werte nicht mehr ausreichend kritisiert werden, belässt man repressiv handelnden Regierungen einen großen Spielraum, unter vermeintlich demokratischen Vorzeichen eine ethnische oder religiöse Gruppe zu assimilieren. Der institutionelle Menschenrechtsschutz kann daher nicht mehr allein über individuelle Freiheitsrechte verstanden werden, sondern muss vermehrt kollektive Aspekte einbeziehen, gerade auch um den Effekt des Anprangerns und damit den Druck auf Staaten zu erhöhen.

Mustafa Örge
Mustafa Örge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit internationaler Ausrichtung der Universität Konstanz.[1]
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