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Peshraw Mohammad

Peshraw Mohammad
Peshraw Mohammad

Kurdinnen und #Kurden# leiden in der Türkei, Syrien und Iran unter nationaler Unterdrückung. Eine Ausnahme bildet Irak, wo sie seit 26 Jahren in einer autonomen Region leben. Dort gibt es eine Klassengesellschaft, Widerstand und eine kleine, aber wachsende radikale Linke
»Wir wollten einen eigenen Staat. Was haben wir bekommen? Panzer, Haftstrafen und korrupte Politiker, während wir hier verhungern. Wie lange soll ich mir das gefallen lassen, was habe ich verbrochen?« Das schrieb die 26-jährige Lehrerin Nariman über die Ursachen der Protestwelle, die im Dezember 2017 über Irakisch-Kurdistan rollte. Die nationale Autonomie der Kurden im Irak hat den Klassenkonflikt nicht aufgelöst. Im Gegenteil: Die soziale Frage steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen in Irakisch-Kurdistan. Die desolaten Lebensverhältnisse für die Mehrheit der Menschen war die Triebfeder der Protestbewegungen.

Die kurdische Klassengesellschaft
Nach dem Golfkrieg und dem Aufstand der Kurden im Irak 1991 schufen die zwei bestimmenden kurdischen Parteien, die PUK (Patriotische Union Kurdistans, geführt von Dschalal Talabani) und die PDK (Demokratische Partei Kurdistans, geführt von Massud Barzani) 1992 eine Regierung und ein Parlament. Seit diesem Zeitpunkt bilden die Führer dieser Parteien die herrschende Klasse in Irakisch-Kurdistan. In der Region leben fast 8 Millionen Menschen. Es gibt dort seit 1991 keine nationale Unterdrückung der Kurden mehr. Die kurdische Regionalregierung hat heute ihre eigene Polizei, ihre eigenen Geheimdienste, ihre eigene Armee (die Peshmerga) und betreibt sogar eine von Bagdad unabhängige Außenpolitik. Die wirtschaftliche Macht befindet sich in den Händen einer kurdischen herrschenden Klasse, welche die Industrie, das Land und die Rohstoffvorkommen kontrolliert.

Die Reichsten leben auf Bergen

Die Führer der beiden großen Parteien PUK und PDK kontrollieren nicht nur den Staat, sondern auch die Wirtschaft und die Ölfelder. Der ehemalige Stellvertreter des inzwischen verstorbenen Talabani besitzt zwei große Krankenhäuser, zwei Ölfelder, 10.000 Quadratkilometer Land in Erbil, zwei eigene Berge in Kurdistan, 360 Wohnungen in Deutschland, eine Eisenbahnlinie in der Türkei, eine Luxuswohnung in Russland und sein Geld auf den Konten europäischer Banken wird auf 38 Millionen Dollar geschätzt. Er ist nicht einmal die reichste Person.
Die Klassengesellschaft in Kurdistan ist sehr sichtbar. Die obere Mittel- und untere Oberschicht lebt in sogenannten »Grünen Zonen« abgetrennt vom Rest der Bevölkerung. Die Reichsten leben auf Bergen. In Kurdistan ist es Tradition, dass die Oberschichten sich ihre eigenen Berge kaufen. Es gibt ein Sprichwort in Kurdistan: »Wenn du eine hohe politische Position einnehmen möchtest, musst du die Berge kontrollieren«.
In den westlichen Medien wird Irakisch-Kurdistan als eine demokratische, politisch stabile und reiche Region dargestellt. Sie zeigen nur allzu gerne die schönen Orte, die Shoppingcenter, die Siedlungen der Mittel- und Oberschichten und die Berge der Superreichen.

Viele haben nicht genug zu Essen

Die Wirklichkeit jenseits der Shoppingcenter sieht anders aus: Die Mehrheit der Menschen lebt in bitterer Armut, viele haben nicht genug zu Essen und müssen ohne fließend Wasser und ohne Strom leben. Nach 2005 wurden viele Industriebetriebe geschlossen, viele Arbeiterinnen und Arbeiter wurden entlassen. Heutzutage gibt es kaum noch eine industrielle Basis in Kurdistan, mit Ausnahme der Ölindustrie. Eine große Anzahl von Menschen wird beim Staat beschäftigt.
Neben der Ölindustrie ist der öffentliche Dienst der größte Arbeitgeber. Die Arbeitslosigkeit ist trotzdem immens hoch. Es gibt Zahlen, die von einer Quote von 20 Prozent ausgehen. Der Durchschnittslohn eines Arbeiters liegt bei 320 Dollar. Das ist schon wenig, eine vierköpfige Familie zahlt im Durchschnitt alleine für die Miete pro Monat 300 Euro. Doch wird selbst dieser Lohn häufig nur einmal in drei Monaten ausgezahlt. Zudem bekommen viele Beschäftigte, die formell eine Arbeit haben, überhaupt kein Geld und suchen nach einer anderen Arbeit. In Kurdistan sagt man, dass die Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent ist, aber dass 80 Prozent der Lohnabhängigen, die eine Arbeit haben, auch »arbeitslos« sind, da sie vom Lohn nicht leben können.

Der Widerstand wächst
Schon 2005 gab es Demonstrationen mit sozialen Forderungen vor allem in Sulaimaniyya und in ländlichen Gebieten. Zehntausende beteiligten sich damals. Während dieser Zeit wurden die kurdischen Ölfelder von der Regionalregierung an ausländische Unternehmen verkauft. Die Gewinne landeten in den Taschen der Führer der Parteien und ihrer Verwandten und Freunde. Bei der normalen Bevölkerung kam nichts an.
Die beiden großen Parteien fanden jedoch einen Weg, die Bewegung mit sozialen Versprechungen zu spalten. Mit viel Geld kauften sie Oppositionelle, Intellektuelle und Journalisten, damit sie ihre Kritik aufgaben. Die Korruption nahm riesige Ausmaße an.

Im Zuge des Arabischen Frühlings kam es zu einer neuen Protestwelle

2009 verließ der Stellvertreter von Talabani die PUK. Er baute eine neue politische Partei auf, die sich »Gorran« (»Wandel«) nannte. Die Ausrichtung dieser Partei umfasste neben kurdischem Nationalismus auch Forderungen nach Demokratie, Bürgerrechten, Transparenz und Gerechtigkeit. Bei den Wahlen 2009 errang sie auf Anhieb mehr als ein Fünftel der Parlamentssitze. Es war der zweite große Protest gegen die kurdische Regionalregierung nach den Demonstrationen von 2005. Für vier Jahre war »Gorran« eine Oppositionskraft im Parlament. Zwar begann die Partei schon in dieser Zeit, die in sie gesetzten Hoffnungen zu verraten. Sie unterstützte Privatisierungen und neoliberale Wirtschaftsreformen. Später, 2013, sollte sie auch formell in die Regierung eintreten. Doch 2011, als eine dritte Protestwelle begann, befand sie sich noch in der Opposition.
Im Zuge des Arabischen Frühlings kam es damals zu einer neuen Protestwelle. Eine wichtige Basis dieser Bewegung waren die Studierenden. Diese Bewegung, die als »Februar-Bewegung« bekannt wurde, dauerte mehrere Monate. Sie stellte neben sozialen Forderungen auch die Forderung nach einem Rücktritt der Regierung auf. Am Anfang stellte sich »Gorran« gegen die Protestbewegung, doch nach einem Monat unterstützte sie sie, um sie zu kontrollieren. Sie führte sie schnell in die Sackgasse und 2013, nachdem die Partei ein zweites Mal gewählt wurde, beteiligte sie sich an der Regierung. Damals sagte der Führer der Partei Nawshirwan Mustafa, er hoffe, dass die Straßen in Zukunft »leise« seien.

Der IWF und die Weltbank mischten mit

2014 begann sich die Wirtschaftskrise in Irakisch-Kurdistan bemerkbar zu machen. Die Arbeitslosigkeit stieg weiter an, Löhne wurden gekürzt, viele Arbeiterinnen und Angestellte bekamen monatelang keinen Lohn. Als die Löhne wieder gezahlt wurden, bekamen die Beschäftigten nur noch die Hälfte von dem, was sie vor 2014 bekamen. Vor diesem Hintergrund begann 2015 eine neue Bewegung. Arbeiterinnen, Angestellte und Lehrer gingen monatelang auf die Straße. »Gorran«, nun Teil der Regierung, unterstützte die Bewegung nicht mehr. Der Finanzminister, der für die ausstehenden Löhne verantwortlich war, war selbst Mitglied der Partei.
Zudem hat sich eine weitere Partei mit dem Namen Nawae Nwe (»Neue Generation«) gegründet. Während »Gorran« soziale Themen zumindest anspricht, ist der Vorsitzende von »Nawae Nwe« ein Unternehmer, pro-amerikanisch und ein starker Befürworter von Privatisierungen. Die Massenmedien in Kurdistan behaupten, »Gorran« sei eine Partei zur Lösung politischer Probleme und »Nawae Nwe« eine Partei zur Lösung wirtschaftliche Probleme. Doch beide Parteien stehen für einen prokapitalistischen Weg.
2016 begann ein neuer Prozess zur Lösung der Wirtschaftskrise in Irakisch-Kurdistan. Der IWF und die Weltbank mischten mit: Sie wollten Kredite geben und verlangten dafür weitere Privatisierungen. Wieder protestierten Zehnttausende, aber diesmal mit einer höheren politischen Klarheit. Mit ihren Forderungen gegen den IWF und die Weltbank hatten die Proteste antikapitalistischen Charakter.

Eine neue Linke entsteht
Unglücklicherweise gab es auch damals keine starke bewegungsorientierte Linke, die diese Bewegung positiv, in die richtige Richtung hätte beeinflussen können. Zwar gibt es traditionelle linke Parteien in Kurdistan, die die sozialen Proteste auch unterstützten – die offiziellen sind die Kurdische Kommunistische Partei (KKP) und die Arbeiterkommunistische Partei Kurdistans (APK). Die KKP unterstützt jedoch offen die bürgerliche PDK Barzanis und die APK hat kaum Einfluss und neigt zu Sektierertum.
Im Zuge der Sozialproteste entstand auch eine neue Linke. Hierzu gehören zwei radikale Gewerkschaften von Studierenden. Der eine Verband heißt »1968« und der andere Verband nennt sich »Oktober«. Daneben entstand auch das »Socialist Review Center Kurdistan«, in dem sich revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten organisieren.
Doch insgesamt ist die radikale Linke noch zu klein, um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wirklich beeinflussen zu können. Eine wichtige Entwicklung für die Linke ist die Politisierung und Radikalisierung der Gewerkschaftsbewegung in den letzten Jahren.

Im Zuge der Sozialproteste haben sich unabhängige Gewerkschaften gebildet

Ein wirklich bedeutender Zweig des Arbeitsmarktes ist die Ölindustrie. Nur 20 Prozent der dort Beschäftigten sind jedoch Kurden. 80 Prozent kommen aus anderen Ländern. Das macht die gewerkschaftliche Organisation schwierig. Doch die dort Beschäftigten haben eine hohe ökonomische Macht. Als es vor kurzem in einem kleinen Ölfeld zu einem Streik kam, ging die Regierung sofort auf die Forderungen der Arbeiter ein.
Die großen Gewerkschaften in Kurdistan sind jedoch keine Hilfe im Kampf. Sie sind wirtschaftsfreundlich und streben ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Bossen und Parteiführern an. Der Dachverband dieser Gewerkschaften entstand 2010 aus dem Zusammenschluss zweier Verbände, die jeweils einer der beiden großen bürgerlichen Parteien (PUK und PDK) angehörten. Die offiziellen Gewerkschaften halfen dabei, Protestbewegungen abzuwürgen, in dem sie Teilnehmer aufforderten, nach Hause zu gehen. Sie versprachen, sich um die Forderungen in Gesprächen mit Politikern zu kümmern.
Doch im Zuge der Sozialproteste haben sich unabhängige Gewerkschaften gebildet, die wirklich die Interessen der Arbeiter vertreten: Für soziale Verbesserungen, höhere Löhne und einen Rücktritt der Regierung. Sie sind im Gewerkschaftsverband »Arbeiterzentrum für den Kampf« zusammengeschlossen und organisieren Beschäftigte aus verschiedenen Branchen, vor allem aber in der Baubranche.

Der Kampf gegen nationale Unterdrückung muss mit dem Kampf um soziale Befreiung verbunden werden

Dort gibt es es eine wirkliche Bewegung der Beschäftigten. Derzeit wird in Kurdistan viel gebaut, überall entstehen Einkaufsmeilen und alte Gebäude werden abgerissen und neue gebaut. Ökonomisch haben die Bauarbeiter vielleicht nicht so viel Macht wie die Ölarbeiter. Doch sie bilden in Kurdistan jene Sektion der Arbeiterklasse mit dem höchsten politischen Bewusstsein. Unter den Bauarbeitern gibt es wirkliches Klassenbewusstsein und nicht zufällig ist die aktivste unabhängige Gewerkschaft die Gewerkschaft der Bauarbeiter. Diese Gewerkschaft hat auch die letzten Proteste im Dezember 2017 und März 2018 unterstützt.
Für die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und die Linke in Kurdistan wird es darauf ankommen, den Versuchen des Regimes und der prokapitalistischen Parteien zu widerstehen, an die »nationale Einheit« und die »kurdische Sache« zu appellieren, um so von der sozialen Frage abzulenken. Die fortgesetzte Unterdrückung der Bevölkerung durch eine kurdische herrschende Klasse zeigt, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem Kampf um soziale Befreiung verbunden werden muss.

Peshraw Mohammad ist kurdischer Sozialist und Buchautor aus Sulaimaniyya in Irakisch-Kurdistan. Er lebt zurzeit in Deutschland.[1]
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