Newroz.com führt seit dem 10. Juni 2014 Interviews zu dem Angriff der jihadistischen Terrorgruppe, ISIS (Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien), auf die Millionenstadt Mossul, durch. Die Stadt fiel in wenigen Stunden in die Hand der ISIS, da die irakische Armee nicht in der Lage war, gegen sie zu kämpfen. Im gleichen Zug eroberten sie weitere irakische Städte, die mehrheitlich sunnitisch sind. Die Taten der ISIS sind medial höchst präsent und führen u.a. zu unterschiedlichen Verschwörungstheorien.
Wir hatten die Chance den Politikwissenschaftler und freier Jornalist, Dr. Awat Asadi, zu diesem brisanten Thema zu interviewen. Herr Asadi promovierte zu dem Thema „Der Kurdistan-Irak-Konflikt. Der Weg zur Autonomie seit dem Ersten Weltkrieg“.
Newroz.com: Der Präsident der Autonomieregion Kurdistans, Mesud Barzani und andere kurdische Politiker haben, laut eigener Aussagen, die irakische Zentralregierung auf die Angriffspläne der ISIS in Mosul hingewiesen, jedoch sei dem keine Beachtung geschenkt worden.
Awat Asadi: Wir wissen nicht, welche genaue Informationen vorlagen, wer an wen, wo, wann, und was weitergeleitet worden ist. Diese Dinge bleiben wie so oft in der dunklen Geschichte verborgen. Dass es Mahnungen an die irakische Regierung seitens der Behörden in Kurdistan gegeben hat, ist durchaus denkbar und Bagdad hat nach unseren Kenntnissen bisher nicht so etwas dementiert. Fest steht aber, dass ranghohe Funktionäre im Innenministerium und im Verteidigungsministerium, beide sind übrigens dem Regierungschef Herrn Nuri al-Maliki untergeordnet, versäumt haben, Ihr Amt professionell zu führen. Und was auch immer geschehen ist, sind sie kläglich gescheitert, den Aufmarsch jener Kräfte in so einer großen Provinz des Landes zu stoppen.
Newroz.com: Im Jahr 2016 jährt sich das Sykes-Picot-Abkommen, auf Grundlage dessen Großbritannien und Frankreich Kurdistan unter sich aufteilten, zum 100. Mal. Die Kurden haben am meisten unter jener Politik gelitten. Ihrerseits erklärte die ISIS am 10. Juni das Sykes-Picot-Abkommen für beendet. Erwartet die Kurden eine bessere Zukunft?
Awat Asadi: Wir dürfen das Gewicht der ISIS nicht überschätzen. Sie sind keine repräsentative Macht in den von Ihnen besetzten Städten. Der Nordost-Irak ist weder Afghanistan noch Pakistan, noch Somalia, so dass diese Steinzeitideologie einen entsprechenden Boden auf Dauer findet. Das Sykes-Picot-Abkommen bzw. der Erste Weltkrieg besiegelte das Schicksal des Osmanischen Reiches, jenem Reich, dem kaum ein Araber nachweint. Denn der Machtanstieg der Araber in der Neuzeit ist nur jenem Zerfall zu verdanken. Was die Kurden anbetrifft, so dürfen sie keine voreiligen Schlüsse ziehen! Sie müssen sich auf alle Eventualitäten vorbereiten, aufmerksam die Entwicklungen auf allen Ebenen verfolgen, die eigene Sicherheit gewährleisten und konsolidieren, die Wirtschaft aufbauen, fähige technokratische Apparate entwickeln.
Newroz.com: Nach dem Rückzug der USA (2011) scheint der amtierende Ministerpräsident Nuri Al-Maliki viele Sunniten aus wichtigen Posten zu jagen. Der stellvertretende irakische Staatspräsident floh aus dem Irak, der Wirtschaftsminister landete im Gefängnis, viele ranghohe Generäle und Beamte wurden entlassen. Nuri Al-Maliki sendete die Dicle-Einheiten gegen die Kurden aus, stoppte die Budgetzahlungen an Kurdistan und veranlasste auch die Gehaltszahlungen der Peschmerga zu kappen. Es gibt massive Kritik an ihm? Welche Ziele verfolgt dieser Mann und wie positioniert sich die Führung in Kurdistan zu ihm?
Awat Asadi: Seit seiner zweiten Amtszeit haben wir mit einem anderen Herrn Nuri al-Maliki zu tun. Er setzt auf eine straffe Zentralisierung des Landes und zwar durch eine weitgehend intransigente Politik gegenüber seinen Rivalen, wenn wir nicht sogar sagen gegen alle. Diese Politik markiert auch eine Art rote Linie für die Verantwortlichen in Kurdistan und zwingt sie zum Handeln. In diesem Zusammenhang versucht die kurdische Seite, die anderen Kräfte im Land weiter im politischen Prozess zu integrieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass es selbst innerhalb des schiitischen Blocks genug Figuren und Gruppierungen gibt, die mit der Politik von Herrn al-Maliki alles andere als glücklich sind. Alle Parteien sind aufgerufen, den Weg des Dialogs einzuschlagen und von unnötigen Spannungen abzusehen. Man darf nicht vergessen, dass für die Kurden in Süd-Kurdistan die Araber im Irak die nächsten alten, gegenwärtigen und künftigen Nachbarn sind und zwar trotz aller bestehenden großen politischen und interessenbedingten Diskrepanzen.
Newroz.com: In bestimmten kurdischen Kreisen heißt es, dass dieser Krieg nicht der Krieg der Kurden sei. Falls Kräfte, wie die ISIS sich in der Region niederlassen, werden sie jedoch gleichzeitig zu Nachbarn Kurdistans. Ferner erheben die sunnitischen Araber Anspruch auf Mosul, Kirkuk und einige andere Gebiete Kurdistans. In Zukunft könnten sie in einem Krieg gegen die Kurden Unterstützung seitens der Türkei und den arabischen Staaten erhalten.
Awat Asadi: Das sind hypothetische Fragen, die vielleicht nicht auftreten. Allerdings ist die ISIS bei den aktuellen Entwicklungen nur ein Machtfaktor und repräsentiert nicht die Mehrheit der arabischen Sunniten. Es ist eine Frage der Zeit, wann die anderen Strömungen aus dem sunnitischen Spektrum, ob die Nationalisten, Liberalen, Demokraten, Islamisten oder gar die Stämme stärker an Einfluss gewinnen. Es ist richtig, die Territorial-Konflikte haben die Kurden eher mit den arabischen Sunniten in den sogenannten umstrittenen Gebieten. In Wahrheit will die irakische Seite, ob Schiiten oder Sunniten überhaupt alles beim Alten lassen. Also die Demarkationslinie aus der Zeit 19. März 2003, als Saddam Hussein noch an der Macht war. Doch seit dem 9. Juni sind die Karten neu gemischt. Wir wissen noch nicht, wie es ausgeht. Als Positiv darf schon bewertet werden, dass die Peshmarga tatsächlich viele Gebiete vor dem Zugriff unberechenbarer Kräfte bewahrt haben.
Newroz.com: Das Weiße Haus hat sich in den letzten Tagen mit dem Präsidenten Kurdistans, Mesud Barzani und den führenden sunnitischen und schiitischen Politikern in Verbindung gesetzt, um gemeinsame Maßnahmen gegen den Terror abzustimmen und eine Einheitsregierung aus Schiiten, Sunniten und Kurden zu formen. Welche Forderungen stellen aktuell die Kurden an Bagdad?
Awat Asadi: Was die Machtfrage in der irakischen Hauptstadt anbetrifft, so tritt die kurdische Seite für eine tatsächliche Partnerschaft – sprich die Beteiligung aller an der Regierung und Verantwortung. Dabei wird es bleiben. Die politische Lage ist nach wie vor sehr undurchsichtig, und es ist noch offen, was im irakischen Parlament erreicht werden kann. Ob ein Konsens überhaupt getroffen werden kann, ist bis heute fraglich.
Newroz.com: Funktionäre aus Südkurdistan bringen oftmals eine mögliche Unabhängigkeit Kurdistans zur Sprache. In der letzten Zeit haben sich Peshmerga-Kräfte in den Regionen wie Kirkuk, die nach dem Vormarsch der ISIS von der irakischen Armee geräumt wurden, festgesetzt. Wie sieht die militärische Lage gegenwärtig aus? Wollen die Kurden erneut auf die Anwendung der irakischen Verfassung vertrauen?
Awat Asadi: Längst hat die kurdische Seite erkannt, dass ihre politischen Gegner unter den arabischen Strömungen im Allgemeinen nur widerwillig auf eine Umsetzung des ohne hin schwer umsetzbaren Artikels 140 setzen. Eine militärische Kontrolle dieser Gebiete ist keine leichte Aufgabe, auch wenn manche Leute das Gegenteil behaupten. Der Beweis liegt auf der Hand. Eine mittelgroße Stadt wie Hawija - unweit von Kirkuk - wird von den bewaffneten Arabern, ob ISIS oder Alt-Baathisten oder irgendwer kontrolliert. Es gibt andere Beispiele unweit von Khanaqin. Die Einnahme solcher Städte ist wahrlich mit großen unkalkulierbaren Risiken verbunden. Selbst in Kirkuk gibt es nicht selten Zwischenfälle.
Newroz.com: Ist die Regierung Südkurdistans, die mit der Türkei wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen pflegt, in der Lage, die Unabhängigkeit Kurdistans auszurufen? Wie wird in diesem Fall die Türkei, die ihren eigenen Kurden in Nordkurdistan jedwede Rechte verwehrt, reagieren? Zuletzt gab es auch ein Treffen einer KDP- und PUK-Delegation unter dem Vorsitz Necirvan Barzanis mit der iranischen Führung: Während den Gesprächen hob die iranische Seite eine “kurdisch-schiitische Allianz” hervor. Ist heute eine zweite Caldiran-Fehde möglich?
Awat Asadi: Die Nachbarn von Kurdistan, die Türkei, der Iran aber auch Syrien haben längst erkannt, dass die Kurdenfrage auf eine Regelung beharrt und ein Ausweg ist unvermeidbar. Sie würden den neuen Entwicklungen gewollt oder ungewollt irgendwann Rechnung tragen.[1]