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„Die Bundesregierung akzeptiert völkerrechtswidrige Kriege gegen Kurd:innen“
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Gregor Gysi
Gregor Gysi
Anstatt sich zum Vollstrecker der menschenunwürdigen Kurdenpolitik des türkischen Staates zu machen, sollte Deutschland sich als Vermittler für eine Lösung der kurdischen Frage einbringen, sagt der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi (Die Linke).
Sie sind Hoffnungsträger für Ihre Partei Die Linke bei der Bundestagswahl am 23. Februar.

Auf jeden Fall erlebe ich, dass gerade die jungen Mitglieder die Mission Silberlocke richtig gut finden und gemeinsam mit uns den Wahlkampf rocken wollen. Und das funktioniert ausgezeichnet. Die Säle sind voll, die Stimmung hervorragend. Dass ich auf meine alten Tage nochmal als TikTok-Star gelte und frühere Reden von mir inzwischen für Techno-Rhythmen remixt werden, hätte ich mir auch nicht vorstellen können. Wir haben mit der Mission Silberlocke offenbar einen Nerv getroffen, dass Ältere in unserer Gesellschaft eben nicht zum alten Eisen gehören müssen, sondern mit ihrer Erfahrung auch etwas bewirken können.

Und für Deutschland?

In jedem Fall braucht es im Bundestag gerade jetzt die linke Opposition, die für Solidarität, soziale Gerechtigkeit, friedliche Außenpolitik, bezahlbare Mieten, sinkende Preise für Lebensmittel und Strom und für einen fairen Umgang mit Geflüchteten eintritt. Das ist gerade auch deshalb so wichtig, weil es sonst überhaupt keine linken Argumente mehr im Bundestag und dann auch nicht in den Medien und damit auch nicht in der Gesellschaft gäbe. Die Debatten fänden nur noch zwischen Mitte und Rechtsaußen statt. Mit fatalen Folgen für die soziale Balance im Land. Wir haben das gerade bei der Asyldebatte und dem üblen Zusammenwirken von CDU, FDP und BSW mit der AfD gesehen.

Sie hatten 2023 versucht, eine Spaltung der Linkspartei zu verhindern. Ihr Versuch scheiterte und aus dieser Spaltung ging das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hervor, das vor allem durch das Aufgreifen von Themen wie Migration und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Erfolge erzielen konnte. Hat das BSW eine Zukunft oder holt Sahra Wagenknecht nur Proteststimmen?

Sahra Wagenknecht war anfänglich erfolgreich, aber mittelfristig hat sie keine Chance. Ihr Stern sinkt ja schon jetzt. Aus zwei Gründen. Der erste Grund ist die Mischung: Das BSW macht Europapolitik und Flüchtlingspolitik wie die AfD, will Wirtschaftspolitik machen wie Ludwig Erhard und Sozialpolitik wie wir. Das kann miteinander nicht funktionieren, weil die einen Dich aus diesem Grund nicht wählen werden und die anderen aus dem anderen Grund. Das ist schlicht nicht konsistent. Und zweitens hat die Partei ziemlich autoritäre Strukturen, was viele Unterstützer jetzt abschreckt. Da entscheidet ein Ehepaar im Saarland, wer Mitglied sein darf und wer nicht. Darauf kann man dauerhaft nichts aufbauen.

Ihre Partei wird kritisiert, weil ihre Außenpolitik als ambivalent wahrgenommen wird.

Unsere Haltung ist ganz klar. Wir wollen das in den internationalen Beziehungen nicht länger das Recht des Stärkeren, sondern wieder strikt das Völkerrecht gilt und Konflikte durch Diplomatie und Interessenausgleich statt mit Waffengewalt gelöst werden. Wir brauchen weltweite Abrüstung und nicht noch mehr Waffen für Billionen Dollar. Geld, das fehlt, um den Hunger und den Klimawandel effektiv zu bekämpfen.

US-Präsident Donald Trump fordert von NATO-Staaten und weiteren Ländern, für ihre Verteidigung künftig fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auszugeben. Deutsche Parteien, vor allem die SPD und die CDU, wollen das unbedingt umsetzen. Wird die Linkspartei mit ihren Plänen zur Kürzung des Verteidigungsbudgets in der Bevölkerung auf Zuspruch stoßen?

Am meisten Geld für Rüstung will die AfD ausgeben, genau die von Trump geforderten fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das wären jährlich 209 Milliarden Euro. Aber auch die anderen Parteien wollen noch mehr Geld für Rüstung ausgeben als jetzt. Ein Wahnsinn. Das Geld müsste irgendwo anders eingespart werden, weil ja CDU/CSU, FDP und AfD meinen, dass die Schuldenbremse unverändert bestehen bleiben muss. Wo soll dann gespart werden - bei der Bildung, bei der Gesundheit, bei der Rente, beim bezahlbaren Wohnen? Das müssen wir den Menschen bewusst machen.

Neben Zugewanderten sehen viele Ostdeutsche die derzeitige wirtschaftliche Lage pessimistisch. Wie groß ist das Dilemma für die unteren und mittleren Einkommensgruppen?

Die soziale Spaltung wird immer tiefer. Fast 20 Prozent der Rentnerinnen und Rentner, also 3,5 Millionen bekommen so wenig Rente, dass sie in Armut leben müssen oder ihnen diese droht. Sie sind ebenso wie drei Millionen arme Kinder und ihre Eltern von Miet- und Preissteigerungen besonders betroffen. Doch gerade bei den unteren Einkommensgruppen versagen die anderen Parteien mit ihren Steuerkonzepten. An schlimmsten ist die AfD, würde man ihre Konzepte umsetzen stiege die Armutsrisikoquote in Deutschland um 13 Prozent, mit der Linke sänke sie um 16 Prozent.

Überall auf der Welt, von Italien bis in die USA, beobachten wir, dass rechte Parteien immer mehr Zuspruch erhalten. Woran liegt das?

Es ist in der Tat eine Entwicklung in Nordamerika und Europa. Zu viele Menschen folgen der Suggestion der Rechten, dass sich existentiellen Probleme der Menschheit im nationalen Rahmen lösen ließen. Also wenn man Sündenböcke an den Pranger stellt und die Grenzen dicht macht, Menschen mit Migrationshintergrund abschiebt, die Armen noch mehr drangsaliert, ginge es angeblich anschließend dem Rest besser. Die eben genannte Zahl, was das AfD-Wahlprogramm bewirkte, beweist das Gegenteil. Die ist eine unsoziale Milliardärsschutzpartei.

Welches Ergebnis erwarten Sie bei der Bundestagswahl? Worauf führen Sie den Stimmenzuwachs der AfD in den Umfragen zurück? Und was sollten Sozialisten, Revolutionäre oder die Linke tun?

Klar dagegenhalten und weiter kämpfen bis zum Wahltag, um die Linke so stark wie möglich im Bundestag zu machen. Heidi Reichinnek hat mit ihren Reden im Bundestag klar gezeigt, wer den Versuchen von CDU/CSU, FDP und BSW, Mehrheiten gemeinsam mit der AfD herzustellen, am deutlichsten widerspricht. Je stärker die Linke wird, umso schwerer wird es der Union fallen, diese Versuche nach der Wahl fortzusetzen.

Die Antikriegsbewegung in Europa ist geschwächt, in vielen Regionen der Welt finden Kriege oder Kriegshandlungen statt. Wo ist das Dilemma der Linken, wo das der Anti-Kriegs-Bewegung?

Die Anti-Kriegs-Bewegung muss begreifen, dass sie gegen alle Staatenlenker, die ihre Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen versuchen, gleichermaßen Front machen muss. Das Völkerrecht muss endlich wieder universell gelten.

Die Bundesregierung hat unlängst erstmals seit Jahren offizielle Gespräche mit der Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien geführt. Das war eine willkommene Entwicklung. Glauben Sie, dass Deutschland seine neue Rojava-Politik trotz des türkischen Staates ändern wird, oder wird man sich vorerst mit kleinen Schritten begnügen, um den Partner nicht zu ärgern?

Zumindest mit einem Kanzler Friedrich Merz dürfte es bei kleinen Schritten bleiben, wenn überhaupt. Es ist beschämend, dass Deutschland wie alle anderen NATO-Staaten die Kurdinnen und Kurden, die entscheidend zum Sieg über den sogenannten Islamischen Staat beigetragen und letztlich die Hauptlast der Kämpfe am Boden getragen haben, nun so allein lassen im Konflikt mit Erdogan. De facto akzeptiert die Bundesregierung die Führung völkerrechtswidriger Kriege durch das NATO-Mitglied Türkei. Das zeigt, wie wenig man die von der Bundesregierung postulierte wertegeleitete Außenpolitik ernst nehmen kann.

Durch die Stigmatisierung durch die Mainstream-Politik und ihrer Gleichsetzung mit Terroristen werden Kurd:innen ihrer Grundrechte beraubt. Dieser Diskurs trägt zum Blutvergießen in Kurdistan bei. Wieso gehen linke Kräfte in Deutschland nicht geschlossen gegen die Listung der kurdischen Bewegung als „Terrororganisation“ vor?

Auch das ist in erster Linie dem Verhältnis zum NATO-Partner Türkei geschuldet. Erdogan begründet seinen Feldzug gegen die Kurdinnen und Kurden in Syrien und im Irak ja gerade mit einem angeblichen Kampf gegen den Terrorismus. Diese Begründung stünde auf noch wackligeren Füßen, wenn kurdische Organisationen nicht mehr auf der so genannten Terrorliste stünden, wo sie meiner Meinung nach nicht hingehören. Vielleicht liegt ein Schlüssel darin, dass eine Freilassung von Abdullah Öcalan, für die ich mich seit langem einsetze, endlich ernsthaft verhandelt und mit einer Lösung der kurdischen Frage verbunden wird. Hier könnte sich die Bundesregierung als Vermittler einbringen und in der NATO auch für einen entsprechenden Druck auf Erdogan sorgen. Bund und Länder müssen auf jeden Fall aufhören, sich zum Vollstrecker der menschenunwürdigen Kurdenpolitik des türkischen Staates zu machen wie jüngst erst wieder in Nürnberg bei Hausdurchsuchungen und Festnahmen in einem kurdischen Kulturzentrum.

Denken Sie eigentlich über Ruhestand nach? Oder an einen Rückzug aus der Politik?

Das ist auf jeden Fall meine letzte Wahl, bei der ich als Kandidat antrete. Wenn Die Linke und ich gewählt werden, werde ich als Alterspräsident, also als dienstältestes Mitglied, den Bundestag eröffnen. Das wird dann meine erste und einzige Rede im Bundestag, bei der es keine Redezeitbegrenzung gibt. Abgesehen davon habe ich ja als Abgeordneter und in meinen anderen Berufen als Anwalt, Moderator, Podcaster und Autor weiter so viel zu tun, dass man von Ruhestand wirklich nicht reden kann. Aber natürlich werde ich das nicht mehr in der vordersten Reihe machen. Und mit Heidi Reichinnek, Ines Schwerdtner, Jan van Aken und Sören Pellmann haben wir vier sehr gute Politikerinnen und Politiker, die den Staffelstab übernehmen können.

Gregor Gysi ist Mitglied der Gruppe Die Linke im Bundestag. Er führt die Berliner Linke nicht nur als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf - er tritt auch als Direktkandidat in Treptow-Köpenick an. Das Gespräch mit ihm führte Gözde Güler für die Zeitung.[1]

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