Seit Jahren stellt Erdoğan den Vertrag von Lausanne infrage, der den Grenzverlauf zwischen Griechenland und der Türkei regelt. Der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech erklärt, warum die Aufteilung des Osmanischen Reichs nicht zu korrigieren ist.
Mitte nächsten Jahres, am 24. Juli 2022, jährt sich der Vertrag von Lausanne zum neunundneunzigsten Mal, aber alle Blicke sind schon auf den hundertsten Jahrestag im Juli 2023 gerichtet. Für die Türkei ein entscheidendes Datum, denn der Vertrag stand an der Wiege des türkischen Staates – man kann auch sagen, an der Bahre des Osmanischen Reiches. Seit Jahren aber stellt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Vertrag infrage, er sei unfair und eine Niederlage für die Türkei. Es geht ihm im Wesentlichen um die Revision der Grenze mit Griechenland, um etliche Inseln in der Ägäis. Es geht um den wohl letzten Versuch, die Aufteilung des Osmanischen Reiches durch die imperialistischen Mächte Frankreich und Großbritannien zu korrigieren.
Sie begann faktisch mit dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen 1916 und sollte 1920 in San Remo zwischen den beiden rivalisierenden Mächten mit einem Kompromiss abgeschlossen werden. Doch erst im August 1920 wurde in Sèvres in der Nähe von Versailles das Schicksal des Osmanischen Reiches besiegelt. Die Alliierten hatten nicht nur Istanbul erobert, die Italiener saßen in Antalya und Konya, die Griechen in Smyrna¹, die Franzosen in Kilikien. Zuvor hatte sich in Erzurum und Sivas die türkische Nationalbewegung unter Führung von Mustafa Kemal Pascha gegründet, die einen Staat mit nationalen Grenzen forderte. In Sèvres musste die türkische Delegation aber noch die Internationalisierung der Meerenge und die Abtrennung Ostthraziens, der Ägäischen Inseln (außer Rhodos) und Smyrna mit dem ganzen Hinterland an Griechenland unterzeichnen. Italien bekam die Dodekanes und Rhodos. Der Irak mit seinem Ölreichtum im Norden um Mûsil (Mossul) und Hewlêr (Erbil), Palästina, Zypern und Ägypten kamen zu England, während Syrien und Kilikien Frankreich zugeschlagen wurden. In Ostanatolien sollte ein unabhängiger armenischer Staat entstehen, was unter den Kurd:innen erhebliche Unruhen auslöste. Denn das bedeutete die Abtrennung der Provinzen Erzîrom (tr. Erzurum), Qers (Kars), Bedlîs (Bitlis), Ezirgan (Erzincan), Mûș (Muș) und Wan (Van) mit überwiegend kurdischer Bevölkerung. Für Kurdistan war in den Artikeln 62 - 64 eine Kommission aus Mitgliedern der englischen, französischen und italienischen Regierung vorgesehen, die eine lokale Autonomie ausarbeiten sollte – was nie geschah und bis heute die offene Wunde der Türkei ist.
Der Hamburger Völkerrechtsexperte Norman Paech (rechts im Bild) war von 1968 bis 1972 tätig im Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung in Bonn, 1972 bis 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) in Hamburg, 1975 bis 1982 Professor für Politische Wissenschaft an der Einstufigen Juristenausbildung der Universität Hamburg, 1982 bis 2003 für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu völkerrechtlichen Fragen und war im März 2018 beteiligt beim Tribunal gegen die türkische Staatsführung in Paris. Er befasst sich seit Jahren intensiv mit dem kurdisch-türkischen Konflikt, besuchte mehrfach Kurdistan und führte dabei unter anderem Gespräche mit dem KCK-Vorsitzenden Cemil Bayik.
Die Vierteilung Kurdistans
Drei Jahre später fand in Lausanne 1923 dieser imperialistische Schacher eine letzte Korrektur. Die Beschlüsse von Sèvres wurden annuliert, Ostthrazien und die ursprünglich Armenien zugeschlagenen kurdischen Gebiete wurden dem nunmehr völkerrechtlich anerkannten neuen türkischen Staat zugeteilt. Damit kam zwar der Hauptteil des kurdischen Gebietes unter die Herrschaft der Türkei, die kurdische Frage selbst wurde aber aus dem Vertrag gestrichen. Zudem teilte der Vertrag die kurdischen Siedlungsgebiete unter vier Staaten auf – Türkei, Iran, Irak und Syrien. Kurdistan hatte nunmehr, anders als im Osmanischen Reich, keinen offiziellen Status mehr. Es wurde nicht einmal Kolonie – es wurde viel weniger. Kurdistan wurde seiner historischen und politischen Identität beraubt, seine Zerstückelung und Aufteilung wurde völkerrechtlich durch diesen Vertrag abgesichert. Der Leiter der türkischen Verhandlungsdelegation, Ismet Inönü, verkündete zwar: „Wir haben einen Sieg errungen, denn wir haben die Kurdistan-Frage und die Armenien-Frage in der Geschichte begraben – dank England und Frankreich.”² Aber zumindest die Kurdistan-Frage ist eine immer noch offene Wunde der Türkei bis heute.
Doch um Kurdistan geht es Erdoğan mit seinen Angriffen auf den Vertrag von Lausanne nicht. Es sind die Ägäischen Inseln direkt vor der Küste der Türkei. Ende August 1920 hatten türkische Truppen die griechische Armee entscheidend geschlagen, Izmir wurde eingenommen und die griechischen Soldaten verließen das Land über das Meer. In Lausanne allerdings erkannten die Alliierten die der Küste vorgelagerten Inseln bis auf zwei, Imbros und Teneddos, den Griechen zu. Am 23. Januar 1923 hatten Griechenland und die Türkei bereits in einer Konvention einen Bevölkerungsaustausch vereinbart, der jetzt Teil des Vertrages wurde. Etwa 1,5 Million türkische Staatsangehörige mit griechisch-orthodoxem Glaubensbekenntnis wurden nach Griechenland ausgewiesen und etwa eine halbe Million griechische Staatsangehörige, die zum Islam konvertiert waren, mussten in die Türkei übersiedeln. In den Artikeln 12 bis 16 des Vertrages werden detailliert die Inseln aufgeführt, die zu Griechenland kommen oder unter italienischer Besatzung bleiben (Art. 16). Letzteres ist mit der Aufhebung der Besatzung nicht mehr von Bedeutung, auch diese Inseln, oft nur wenige Kilometer von der türkischen Küste entfernt, gehören zu Griechenland. Die Zone um die Meerenge wurde internationalisiert und demilitarisiert. Nur eine Garnison von 12.000 Soldaten in Istanbul wurde erlaubt. Nicht alle territorialen Wünsche der Nationalbewegung waren erfüllt – die Region um Mûsil und Hewlêr kam zum Irak – , aber als völkerrechtlich anerkannter neu gebildeter Staat war der Vertrag für Mustafa Kemal ein großer Erfolg, den er mit den Worten unterstrich: „Dieser Vertrag ist das Dokument über das Misslingen eines großen Anschlags, den man seit Jahrhunderten gegen die türkische Nation vorbereitet hatte und den man glaubte, mit dem Vertrag von Sèvres vollendet zu haben. Dies ist ein politischer Sieg, der in der Geschichte des Osmanischen Reiches nicht seinesgleichen hat.”³
Allerdings enthält der Vertrag auch Vorschriften, die über die Regelung der territorialen Grenzen hinausgehen. So enthalten die Artikel 37 bis 40 des dritten Abschnitts detaillierte Vorschriften zum Schutz der Minderheiten, ihrer Religion, ihrer Sprache und ihrer politischen Rechte, die von allen folgenden türkischen Regierungen systematisch verletzt worden sind. Keine der ehemaligen Vertragspartner der Türkei haben sich jemals um diese Verstöße gekümmert und die Türkei zur Einhaltung des Vertrages gezwungen. Bisher ist nicht deutlich, ob sich Erdoğans Revisionspläne auch gegen diese Artikel wenden. Doch unabhängig von dem Umfang solcher Pläne, jede Veränderung eines wirksam geschlossenen Vertrages bedarf bestimmter Voraussetzungen und Verfahren.
Der Vertrag von Lausanne hat in seinen Artikeln kein Ende festgelegt
Vertragsparteien waren in der Reihenfolge und dem Wortlaut des Vertrages: „Das Britische Empire, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und der Serbisch-Kroatische-Slowenische Staat” auf der einen Seite, die Türkei auf der anderen. Diese Parteien des Vertrages müssten alle einer Veränderung zustimmen. Selbst wenn es der Türkei gelänge, die große Mehrheit der Staaten auf ihre Seite zu ziehen, würde das mit Griechenland nie gelingen. Nun sind in der letzten Zeit Stimmen laut geworden, die dem Vertrag mit seinem hundertsten Geburtstag sein Ende voraussagen. Worauf sich diese Meinung stützt, ist unbekannt. Der Vertrag selbst hat in seinen Artikeln kein Ende festgelegt. Bisher hat sich auch kein Vertragsstaat aus dem Vertrag verabschiedet, kein Staat hat ihn für unwirksam oder nichtig erklärt. Es ist auch kein Missbrauch oder eine Verletzung des Vertrages ersichtlich, die den ganzen Vertrag unwirksam macht. Die andauernden Verletzungen der Vorschriften über den Schutz der Minderheiten, der Religion, der Sprache und der politischen Rechte der Kurd:innen durch die türkische Regierung und Armee, berühren die Wirksamkeit des Vertrages nicht. Selbst wenn die türkische Regierung einseitig den Vertrag aufkündigen würde, kämen die griechischen Inseln nicht wieder zurück. Schließlich kennt das Völkerrecht keine Regel oder Norm, dass internationale Verträge, die keine bestimmte Vertragsdauer in ihren Vorschriften enthalten, automatisch nach 100, 200 oder 500 Jahren enden. Die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 sieht eine solche automatische Beendigung nicht vor, wenn sie nicht im Vertrag selbst verankert ist.
Nehmen wir aber einmal das Ende des Vertrages im Juli 2023 an, so folgt dann jedoch nicht, dass der völkerrechtliche Status der griechischen Inseln vor der Ionischen Küste sich ändern würde. Sie wären weiter griechisches Territorium. Nur ein bilateraler Vertrag zwischen der Türkei und Griechenland könnte das ändern, und daran glaubt niemand.
Ist die völkerrechtliche Lage so eindeutig, so fragt sich, welchem Zweck derartige Gerüchte dienen. Vieles spricht dafür, dass sie nur eine innenpolitische Funktion haben, um eventuell von manifesten wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten abzulenken. Ein Zurück der Inseln in der Ägäis in die Türkei erscheint objektiv unmöglich, da keine griechische Regierung dem zustimmen würde. Die Gründung eines kurdischen Staates, wie sie in dem Vertrag von Sèvres angedacht schien, wäre juristisch möglich, da dazu kein anderer Staat zustimmen müsste. Doch ist die Zeit dafür noch nicht reif, und die PKK hat schon seit 1996 auf die Gründung eines separaten Staates verzichtet. Ein Status der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Autonomie würde dem Geist des Vertrages von Lausanne und dem verbindlichen Recht auf Selbstbestimmung entsprechen. Doch auch dafür ist die Regierung Erdoğan noch nicht bereit. Es bestehen aber auch Zweifel, ob die derzeitigen Manöver um den 100. Jahrestag des Vertrages zu einer Lösung und Heilung des größten aller türkischen Probleme führen wird.
1 - heute İzmir
2 - Vgl. Hamato, Azad: Historische Weichenstellungen für die heutige Kurdenpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Hinz-Kardeniz, Heidi/ Stoodt, Rainer (Hrsg.): Kurdistan, Politische Perspektiven in einem geteilten Land. Giessen 1994
3 - Vgl. Steinbach, Udo: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Bergisch-Gladbach 1996, S. 137.
Der Artikel erschien im Original in der November/Dezember-Ausgabe des Kurdistan-Report.[1]