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„Das Konzept des Nationalstaates funktioniert in Syrien nicht“
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Der DEM-Abgeordnete Cengiz Çiçek
Der DEM-Abgeordnete Cengiz Çiçek
Der DEM-Abgeordnete Cengiz Çiçek sagt, dass Demokratisierung und Pluralität im Mittelpunkt eines neuen Syriens stehen müssten. Das versuche die Türkei mit allen Mitteln zu verhindern.
Die Entwicklungen in Syrien überschlagen sich. Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Damaskus kommt es in den letzten Tagen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kräften der Dschihadistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der Bevölkerung. Bilder von Gräueltaten insbesondere an Alawit:innen häufen sich. Auch aus der christlichen Bevölkerung kommt es nach Angriffen auf christliche Symbole zu Protesten. Primär die Türkei versucht mit aller Gewalt, ihre Interessen durchzusetzen. Im Interview mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika analysiert der Abgeordnete der DEM-Partei, Cengiz Çiçek, den internationalen Kontext der Entwicklungen.

Wie betrachten Sie die Entwicklungen in Syrien und #Rojava#? Was sind die Ziele, welche die imperialistischen Staaten in Syrien durch HTS und ähnliche Gruppen in Syrien realisieren wollen?

Der Sturz des Assad-Regimes in Syrien zeigt, dass sich das Gleichgewicht zu Gunsten der USA, Israels und Großbritanniens verschoben hat. Wir können diese Situation als eine neue Realität bezeichnen. Dieser Realität liegt die Schwächung Russlands, das für lange Zeit in Syrien aktiv war, durch den Krieg in der Ukraine und des Irans durch Israels Angriffe auf die Hamas, die Hisbollah und den Libanon zu Grunde. Man könnte lange Analysen zu diesem Thema anstellen, aber im Widerspruch zu denen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Ende der Geschichte ausgerufen hatten, erleben wir hier die Folgen der strukturellen Krisen des Kapitalismus und des daraus resultierenden globalen Hegemonialkriegs. Um seine systemischen Krisen zu überwinden, hat der Kapitalismus im Laufe der Geschichte ursprüngliche Akkumulationsmethoden modernisiert und aktiviert. Wir wissen, dass diese Krise und die geopolitischen Machtverhältnisse zum Ersten und Zweiten Weltkrieg geführt haben. Heute, mit dem Dritten Weltkrieg, wird erneut Gewalt eingesetzt, um die Systemkrise des Kapitalismus zu überwinden. Der Krieg wird als Weg zur Überwindung der Krise des Kapitalismus angesehen.

In Anbetracht dessen besteht unsere Aufgabe heute wie gestern darin, keinen Status quo zuzulassen, der dem ähnelt, wie er den Völkern von Syrien-Rojava und des Nahen Ostens vor einem Jahrhundert aufgezwungen wurde. Denn während der derzeitige Status quo Risse bekommt, wird der Region erneut eine Realität zugunsten der Hegemonialinteressen von Nationalstaaten und globalen Mächten und zum Nachteil der Völker aufgedrängt. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien wirkt mit ihrem Lösungsmodell wie ein Eisbrecher, der für die gemeinsamen Interessen der Völker des Nahen Ostens eintritt und auf dieser Grundlage ein Lösungsmodell anbietet. Gerade wegen dieses Charakters wird die kurdische politische Bewegung, die das Zusammenleben der Völker im gesamten Nahen Osten inspiriert, gezielt angegriffen und es wird versucht, sie zu liquidieren. Wenn man also Rojava oder im engeren Sinne Kobanê betrachtet, muss man einerseits die Versuche zur Mobilmachung im Sinne einer Überwindung der Systemkrise des Kapitalismus beachten und andererseits den Aufbau eines gleichberechtigten, demokratischen und freiheitlichen Zusammenlebens sehen. Wenn wir uns erinnern: Während der Angriffe des IS auf Kobanê waren die Völker der Türkei und der Welt unabhängig von Sprache, Religion, Ethnizität und Identität solidarisch mit den Menschen in Kobanê. Der große Sieg der demokratischen Zivilisation im 21. Jahrhundert wurde in Kobanê errungen. Alle waren daran beteiligt. Das Gewissen und die kollektiven Werte der Völker der Welt kamen in Kobanê zusammen. Das war das Ergebnis des Widerstands des kurdischen Volkes und seines Aufstands als Gesellschaft.

Ist diese neue Ordnung, die in Syrien geschaffen wurde, wie die AKP/MHP-Regierung behauptet, also im Interesse der Völker der Türkei?

Die kurdische Identität und die Identität Kurdistans genießt in den Augen der Völker der Welt ein hohes Ansehen und kann nicht von der Staatenwelt ignoriert werden. Die AKP/MHP-Regierung versucht jedoch, diese Identität als „Terror“ zu kriminalisieren. Dabei steht die Türkei tatsächlich ziemlich alleine da. Deshalb muss sich nicht die kurdische Freiheitsbewegung, sondern das türkische nationalstaatliche System selbst an die aktuellen Debatten anpassen. Alle Schritte, die die Türkei heute tut, basieren auf der Fortführung des auf der Verleugnung und Vernichtung des kurdischen Volkes aufgebauten Systems. Die Kurdenfeindschaft ist nicht im Interesse der Völker, sondern im Interesse der herrschenden Klassen in der Türkei. Die großtürkische Vision der Regierung verurteilt die Menschen zu Hunger, Armut und Not, während sie nur eine Handvoll Kapitalisten reich und zufrieden macht. Der Kampf, den wir für eine demokratische Türkei führen, wird dieses System von Plünderung und Profit austrocknen. Das ist die ideologische und klassenpolitische Dimension der als Identitätsfrage auftretenden kurdischen Frage. Wie Herr Öcalan vor Jahren erklärte: „Die Interessen des türkischen Volkes und die Interessen der türkischen Machthaber sind nicht dieselben. Die Kurden werden unterdrückt, aber auch die Türken werden in Angst gehalten. An dem Tag, an dem die Kurden befreit werden, werden auch die Türken befreit werden.“ Gerade deshalb ist eine demokratische Lösung der kurdischen Frage die Kernfrage der demokratischen Kräfte und der Gesellschaft der Türkei. Die gegenwärtige Krisensituation zeigt deutlich, dass ein Jahrhundert der Verleugnung des kurdischen Volkes den Völkern der Türkei am Ende keinen Gewinn gebracht hat. Wenn wir von der jüngsten Vergangenheit der Türkei in die Gegenwart blicken, sehen wir zwei Realitäten: Erstens wirkt die auf Kurdenfeindschaft basierende Politik auf die Türkei im Allgemeinen als Armut, Autoritarismus und Unterdrückung zurück. Dies wird als „Bumerang-Effekt“ bezeichnet. Zweitens: Proportional dazu, wie der auf Überzeugung, Arbeit, Identität und dem Kampf des kurdischen Volkes basierende Widerstand in der Türkei zunahm, entwickelten die unterdrückten Teile der Gesellschaft eine Haltung gegen etatistische Ansätze.

Was erhofft sich die Türkei von diesem neuen Entwicklungsprozess in Syrien? Was werden die nächsten Schritte sein?

In dem historischen Zeitfenster, in dem wir uns befinden, wollen die türkische herrschende Klasse und die sie vertretende AKP/MHP-Regierung die gegenwärtige Konjunktur in Syrien nutzen, um die Selbstverwaltung dort zu vernichten. Um das zu erreichen, was sie während der Assad-Ära nicht geschafft hat, versucht die türkische Regierung jetzt, die Kontakte zur in Syrien herrschenden HTS zu intensivieren. Sie nutzt den Diskurs von „nationaler Einheit und Integrität“ als Mittel des Spezialkriegs auch in Syrien. Indem sie als Bedrohung für die territoriale Integrität dargestellt wird, soll die in ihrem Wesen nicht-separatistische kurdische Politik in der Türkei und Syrien zur allgemeinen Zielscheibe gemacht werden. Wenn man sich jedoch die einschlägigen Artikel des Gesellschaftsvertrags von Nord- und Ostsyrien und die Lösungsvorschläge von Herrn Öcalan in früheren Dialogprozessen ansieht, wird man feststellen, dass es sich dabei nur um Spezialkriegspropaganda des AKP/MHP-Regimes handelt. Die Tatsache, dass die AKP-Regierung die einzige politische Entität unter etwa 205 Staaten und hunderten von nicht-staatlichen Akteuren und Widerstandsdynamiken ist, das die Selbstverwaltung als separatisch darzustellen versucht, ist ein deutlicher Beweis dieses Trugschlusses. Dies wiederum wird die AKP-Regierung und die Türkei, wenn diese ihre politischen Präferenzen nicht ändert, mit jedem Tag weiter isolieren. Eine Türkei, die es verpasst hat, die kurdische Frage demokratisch zu lösen, wird nicht umhinkommen, sich zu verschließen und in den eigenen Krisen zu ersticken.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass sich das Vorgehen der türkischen Regierung von dem ihrer Vorgänger im letzten Jahrhundert unterscheidet: Sie versucht, ihre Macht zu festigen, indem sie die Entwicklungen in Syrien zu einem Werkzeug für die innenpolitische Militarisierung der Gesellschaft macht. Dieser auf Kurdenfeindschaft aufbauende Nationalismus bedeutet heute wie gestern im Grunde nichts anderes, als das System an die globale Kapitalordnung anzubinden. Im Gegenzug für das auf Verleugnung des kurdischen Volkes aufgebaute System spielen die kapitalistisch-imperialistischen Mächte die unbegrenzte Rolle einer Schutzmacht. Wenn der Außenminister über die Selbstverwaltung regelmäßig sagt, dass sie „als Vorposten der USA agiere“, dann gibt er damit seine eigene historische Rolle preis. Der Generalstabschef geht sogar noch weiter und wendet sich direkt an die USA mit einem offenen Angebot: „Lasst uns den Kampf gegen den IS übernehmen.“ Kurzum, er macht klar, dass er jeder Art der Unterwerfung bereit ist, solange die Kurdinnen und Kurden keine Sonne sehen. Diese Tatsache verheimlicht er jedoch vor der Bevölkerung der Türkei. Mithilfe der von der Regierung kontrollierten Medienkartelle wird die Wahrheit verschwiegen und es werden alle Arten von Desinformation praktiziert. Während der türkische Staat dem kurdischen Volk nach einem Jahrhundert erneut das „Kolonialrecht“ auferlegt, versucht er gleichzeitig, die Völker der Türkei durch Krieg zu hypnotisieren und zu „nationalisieren“. Indem er auf antikurdische Gefühle setzt und von einer „Überlebensfrage“ spricht, sollen die Völker der Türkei angesichts von Hunger, Armut und in ihrer Forderung nach ihren Bürgerrechten zum Schweigen gebracht werden. Die Kosten für die Starts von Militärjets, die zum „Überleben“ von Amed (tr. Diyarbakir) abheben, wirken sich direkt auf den Mindestlohn aus und stellen im Grunde die wahre Bedrohung für das Überleben der Arbeiter, Angestellten und der Gesellschaft insgesamt dar.

Die Mentalität des IS, jetzt bekannt als HTS, bedroht alle Völker und Glaubensrichtungen in der Region. Wie bewerten Sie diese Situation?

HTS-Führer Dscholani sagte: „Wir bewegen uns von einer Revolution hin zu einem Staat.“ Wenn dieser Staat eine Wiederholung oder eine schlechte Kopie der nationalstaatlichen Mentalität ist, die nicht die Lösung der Probleme, sondern deren Ursache ist, wird er sich nicht halten; er wird den Weg für neues Leid ebnen. Mit unserer Analyse des Nationalstaates sagen wir seit Jahren: „Die Quelle allen Übels sind die nationalstaatliche Mentalität und die aus ihr erwachsenden Strukturen.“ Manche mögen angesichts dieser Worte sofort wieder aufstehen. Aber niemand sollte vergessen, dass es die arabischen, persischen und türkischen Nationalstaaten sind, die den Nahen Osten seit Jahrhunderten in eine Geografie des Blutes, des Schmerzes, der Tränen und der Flucht und Migration verwandelt und den arabischen, persischen und türkischen Völkern, die sie angeblich vertreten, die größten Übel zugefügt haben. Die Tatsache, dass Rojava seit der Revolution der friedlichste und ruhigste Ort in der Region ist, ist auf die von ihm verteidigte Lösung der Demokratischen Nation und seine politisch-administrative Regierungsform zurückzuführen. In der Phase des „Übergangs zum Staat“, wie Dscholani es nennt, muss der Staat daher zunächst für die Werte der Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit sensibilisiert werden. Andernfalls wird sich der neue Staat nur formal verändern, die Gesichter seiner Repräsentanten werden sich ändern, aber sein Inhalt und sein Charakter werden derselbe bleiben.[1]

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