#Kerem Schamberger#
Klonk, Klonk, Klonk. Am 16. März 1988 ertönten dumpfe metallene Aufschläge auf den niedrigen Dächern Halabdschas. Tödliche Gase, schwerer als Luft, begannen sich in den Straßen und Kellern auszubreiten und mit ihnen den Tod. Die 70.000 Einwohner zählende Stadt an der Grenze zum Iran war erst kurz zuvor von iranischen Revolutionseinheiten, unterstützt von kurdischen Kämpfern, im achten Jahr des Krieges gegen Saddam Hussein eingenommen worden. Die irakische Luftwaffe warf daraufhin Senfgas un1d andere Kampfstoffe über der Stadt ab. Aber nicht bevor sie mit kleinen Papierschnipseln die Windrichtung getestet hatte, damit das Gift auch wirklich seine volle Wirkung entfalten und nicht davon geweht werden würde. Das Ziel war die kurdische Zivilbevölkerung und nicht das Militär, das sich durch Gasmasken schützen konnte. Bis zu 5000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder starben innerhalb von 60 Minuten. Sie erstickten. Besser gesagt verbrannten sie innerlich. Ungefähr 10.000 Personen wurden durch schwerste Verbrennungen und Verätzungen dauerhaft geschädigt. Noch heute leiden sie an den Langzeitschäden. Damals war der Irak ein Verbündeter des Westens, der USA und so folgte erst Tage und Monate später eine zögerliche Verurteilung des Massenmords. Der Spiegel schreibt dazu: „Die Empörung im Westen war so groß wie heuchlerisch. Aus politischen Gründen hatten besonders die USA jahrelang den Irak gestützt – zu groß war nach der Islamischen Revolution die Angst vor dem iranischen Gottesstaat. Der Sondergesandte Donald Rumsfeld, später US-Verteidigungsminister, schüttelte Hussein bei einem Besuch 1983 freundschaftlich die Hand, was ihn Jahrzehnte später in Erklärungsnot brachte. Auch sonst vermieden westliche Regierungen so ziemlich alles, was den irakischen Diktator verärgert hätte. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag stufte den Giftgasanschlag später als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein, doch zunächst blieb es erstaunlich ruhig. „Frankreich und die USA verhielten sich auf ähnliche Art und Weise“, erklärte der französische Spitzendiplomat Éric Rouleau einmal in einem Interview. ‚Sie ignorierten das Massaker regelrecht, sie hinterfragten es, sie wollten nicht darüber reden.‘“
Und Deutschland?
Wie an so vielen globalen Kriegsverbrechen war auch an diesem Deutschland maßgeblich beteiligt. Im Falle Halabdschas war es die Firma Karl Kolb GmbH aus dem hessischen Dreieich. Sie lieferte die nötigen Stoffe zur Herstellung der Giftwaffen an die Saddam-Diktatur. Der im Nachhinein beschuldigte Unternehmer Dieter Backfisch, damaliger Geschäftsführer, sagte zu den Vorwürfen nur „Ich kann noch ruhig schlafen“. Und in der Tat hatte er keinen Grund zur Beunruhigung. Es kam zu keinerlei Verurteilung, da laut den Gerichten nicht einwandfrei festgestellt werden konnte, für was die gelieferten Stoffe alles verwendet wurden. Denn bei diesen handelte es sich um sogenannte Dual-Use-Gütern, also Dinge, die für mehrere Zwecke eingesetzt werden können und durch das Außenwirtschaftsgesetz geregelt sind. Die Autoren des begleitenden Kommentars zum Gesetz schreiben, dass die Vorschriften „im Zweifelsfall zugunsten des Freiheitsprinzips auszulegen“ seien, also im Sinne der exportorientierten Wirtschaft. Und so konnten die liefernden Firmen aus Deutschland einfach behaupten, dass es sich um Unkrautvernichtungsmittel und kein Giftgas gehandelt habe. „Aber 70% aller Giftgasanlagen im Irak kamen von deutschen Firmen. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten“, schreibt medico international. Das es zu keiner einzigen Verurteilung kam, stimmt übrigens nicht ganz: medico international wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie hatten ein medizinisches Antidot gegen Giftgas nach Kurdistan geschmuggelt und damit gegen die Außenhandelsrichtlinien der Bundesrepublik verstoßen.
Noch heute übrigens ist die Bundesrepublik laut Spiegel einer der größte Exporteure chemisch-pharmazeutischer Stoffe. Stoffe, die auch damals in Halabdscha zur Anwendung kamen. Fast eine halbe Millionen Menschen arbeiten laut Branchenverband VCI in der chemisch-pharmazeutischen Industrie Deutschlands. Alleine in den Jahren 2002 bis 2006 wurden chemische Mittel im Wert von ca. 500 Milliarden Euro exportiert.
Halabdscha 2017 und die Medien
Am 16. März 2017, dem 29. Jahrestag des Giftgasangriff kamen nun in Halabdscha tausende Menschen zusammen, um der damaligen Opfer zu Gedenken. In einer großen Sporthalle versammelte sich alles was Rang und Namen hatte, um zu zeigen, dass dieses Menschheitsverbrechen zumindest von den Kurden nicht vergessen wird. Viele ausländische Botschaftsvertreter erwiesen sich ebenfalls die Ehre. Auch türkische Diplomaten waren vor Ort – ein absurdes Zeichen, nachdem erst vor einem Jahr türkische Kampfjets nordkurdische Städte aus der Luft bombardierten und derzeit in vielen Regionen Ausgangssperren seitens des türkischen Militärs verordnet worden sind. Nur die Vertreter der Kurdistan Democratic Party (KDP) wollten sich mit der Sitzordnung in der Halle nicht zufrieden geben. Sie wurde nicht in der ersten Reihe platziert und verließen daraufhin unter Tumult das Gelände.
Neben Gesang und Ansprachen wurden auf der Gedenkveranstaltung auch Überlebende geehrt. Überall im Saal fanden sich Menschen mit Bildern ihrer Angehörigen, die den 16. März 1988 nicht überlebt hatten. Das mediale Interesse war immens. Mehrere dutzend Kamerateams kurdischer Nachrichtensender, Moderatoren und andere Journalisten waren anwesend.4 Die komplette kurdische Medienlandschaft war präsent. Dazu muss man wissen, dass Medien in Kurdistan sehr parteipolitisch orientiert und geprägt sind. Stark vereinfacht lässt sich sagen: „Wer zahlt schafft an“. So gibt es nur sehr wenige Medien, die, im westlichen (oder eurozentristischen?) Verständnis, als „unabhängig“ zu bezeichnen sind. Der Nachrichtensender Rudaw gehört zur KDP, der Sender NRT tendiert zur Patriotic Union of Kurdistan (PUK), KNN zur Gorran-Bewegung und Rojnews eben zur kurdischen Freiheitsbewegung, auch bekannt als PKK. Ich war mit den Kollegen der letztgenannten Nachrichtenseite unterwegs. Das Verhältnis der Journalisten untereinander ist kollegial, man kennt und respektiert sich. Bisher habe ich noch keine qualitativen Leitfadeninterviews geführt, sondern einfach nur normale Gespräche mit verschiedenen Journalisten. Dies liegt zum einen daran, dass der Entwurf eines Interviewleitfadens noch nicht perfekt ist, außerdem will ich zu Beginn einige grundlegende Annahmen überprüfen. So ist bisherige Mediensystemforschung, neben ihrer nationalstaatlichen Orientierung, sehr stark auf rechtliche (Medien-)Gesetze und Vorgaben fixiert, die ein Mediensystem formen. Diese gibt es aber zum Beispiel in Südkurdistan so gut wie nicht, beziehungsweise spielen sie nur eine untergeordnete Rolle. Als ich den bekannten Journalisten und Moderator Biryar Efrin danach frage, lacht er nur und sagt: „Hier herrscht das Chaos und kein Gesetz“. Der Rojnews-Mitarbeiter Xelil reagiert ähnlich. „An welche Regeln und Vorgaben haltet ihr euch denn dann?“ frage ich. An das was die Medienorganisation an ungeschriebenen Gesetzen und ideologischen Orientierungspunkten vorgebe. Jeder Journalist wisse in welche Richtung ein jeweiliges Medium tendiert und aus welcher Perspektive deshalb Nachrichtenjournalismus zu betreiben sei. Dabei bedarf es keiner großen Vorgaben oder Zwangs, da sich die Journalisten ihre Arbeitsstelle auch nach ihren jeweils eigenen weltanschaulichen Vorstellungen aussuchen würden. In Rojnews arbeiten dabei viele Menschen, die durch „learning by doing“ in den Journalismus gekommen sind. In ihrer Professionalität und Ausdauer unterscheiden sie sich aber nicht von ihren Kollegen. So sind die Arbeitszeiten in der Redaktion von 08:00 Uhr früh bis 22-23:00 Uhr abends. Viele wohnen und schlafen sogar in dem gleichen Gebäude.
Nach gut zwei Stunden ist das Gedenken in Halabdscha vorbei und viele Menschen ziehen daraufhin zum offiziellen Mahnmal in der Stadtmitte. Auch wir begeben uns dorthin, um noch einige Interviews zu führen. Später geht es zurück ins zwei Stunden entfernte Süleymaniye.
In den kommenden Tagen werde ich weitere Journalisten während ihrer Arbeit begleiten und ab und zu darüber schreiben. Denn ab morgen stehen die ersten Newroz-Feiern an.[1]