#SERKAN DEMIREL#
Der französisch-schwedische Intellektuelle Nils Andersson ordnet #Abdullah Öcalan# s Friedensinitiativen ein, spricht über globale Versäumnisse und erklärt, warum die kurdische Frage weit über die Türkei hinausreicht.
In einem ausführlichen Gespräch mit ANF analysiert der französisch-schwedische Theoretiker, Autor und langjährige Unterstützer antikolonialer Bewegungen, Nils Andersson, die aktuellen Entwicklungen rund um den seit über 26 Jahren in der Türkei inhaftierten kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan. Im Fokus stehen Öcalans strategischer Wandel hin zu einem politischen Lösungsansatz, seine Kritik am Marxismus sowie die Bedeutung der kurdischen Frage im internationalen Kontext. Andersson betont: Eine politische Lösung sei trotz aller Widerstände möglich – und die Forderungen der Kurd:innen nach kultureller Identität und Autonomie seien gerecht, realistisch und von globaler Relevanz.
Seit über 26 Jahren wird der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan unter schweren Isolationsbedingungen im Inseligefängnis Imrali festgehalten. Unter seiner Führung hat sich in der Türkei ein neuer Prozess zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage entwickelt. Wie bewerten Sie die Existenz eines solchen Prozesses und die Friedensinitiativen von Abdullah Öcalan?
Zunächst möchte ich etwas vorwegnehmen, das mir sehr wichtig erscheint: Die Figur Abdullah Öcalans ist untrennbar verbunden mit anderen herausragenden Persönlichkeiten des antikolonialen und emanzipatorischen Widerstands – wie Antonio Gramsci, Nelson Mandela, Georges Abdallah, Adem Demaçi, Marwan Barghouti oder Léonard Peltier. Sie alle haben aus dem Gefängnis heraus für die soziale und politische Befreiung ihrer Völker gekämpft und sich nie gebeugt. Ich halte es für essenziell, dies immer wieder zu betonen.
Bemerkenswert ist zudem, dass Abdullah Öcalan in der gegenwärtigen Phase, über die wir sprechen, seine eigene Freilassung nicht zur Vorbedingung macht. Er akzeptiert es, den Kampf aus der Haft heraus fortzuführen. Dies ist ein bedeutsamer Punkt, den ich zu Beginn hervorheben wollte.
Um die aktuelle Situation zu verstehen, muss man sich die Etappen der Entwicklung vergegenwärtigen. Die erste Phase war bekanntlich der bewaffnete Kampf, der in den 1970er und 1980er Jahren begonnen wurde. Diese Periode war geprägt vom revolutionären Aufbegehren der sogenannten „Dritten Welt“, die sich gegen koloniale Unterdrückung auflehnte. Doch durch Korruption, Repression und die Mechanismen des Neokolonialismus ist es dem Imperialismus gelungen, die Dritte Welt als revolutionäre Kraft weitgehend zu neutralisieren.
Daraus ergab sich eine Sackgasse für den bewaffneten Kampf. Abdullah Öcalans Entscheidung, einen anderen Weg einzuschlagen, war folglich eine wohlüberlegte und angemessene Reaktion. In diesem Zusammenhang formulierte er die legitime Forderung nach Autonomie innerhalb des türkischen Staates.
Diese Forderung stößt jedoch auf das Dogma der Unantastbarkeit bestehender Grenzen – sowohl innerstaatlicher als auch internationaler. Dieses Dogma ist heute in der Architektur des Völkerrechts regelrecht zementiert. Beispiele dafür sind zahlreich: Frankreich konnte bei der algerischen Unabhängigkeit das Sahara-Gebiet nicht abtrennen; Katalonien wurde das Recht auf Unabhängigkeit im spanischen Staat verweigert. Staaten verteidigen ihre Grenzen, weil sie dadurch ihre Machtbasis und ihren Einfluss sichern.
So gelangen wir zur heutigen dritten Phase: Abdullah Öcalan schlägt nun eine politische und juristische Lösung vor, die auf kultureller Anerkennung und politischer Autonomie der kurdischen Institutionen basiert. Dieser Ansatz ist realistisch, vernünftig und im Einklang mit den aktuellen internationalen Gegebenheiten. Als solcher verdient er es, verstanden und als gerecht anerkannt zu werden.
Sollten die Beschlüsse des 12. Kongresses der PKK als Teil dieser neuen Strategie von Abdullah Öcalan verstanden werden? Warum löst die Vorstellung eines möglichen Verzichts der PKK auf den bewaffneten Kampf in bestimmten Kreisen Besorgnis aus – insbesondere angesichts der eskalierenden Gewalt und Aufrüstung im Nahen Osten?
Waffen waren in der Geschichte stets ein Mittel zur Befreiung – von Besatzung, Kolonialismus und Unterdrückung. Doch angesichts der aktuellen internationalen Lage, die durch tiefgreifende Umwälzungen geprägt ist, befinden wir uns in einer Phase beschleunigter Geschichte. Die Ordnung des 20. Jahrhunderts bricht zusammen, neue Konstellationen entstehen.
In einem solchen Kontext müssen Formen des Widerstands den objektiven Bedingungen angepasst werden. Die Vorstellung einer militärischen Befreiung, wie sie einst in der stürmischen Phase der Dritten Welt denkbar war, ist heute weitgehend an ihre Grenzen gestoßen – zumindest vorübergehend.
Gleichzeitig sehen wir eine Welt, die von tatsächlichen und drohenden Kriegen erschüttert wird, bis hin zur realen Möglichkeit eines dritten Weltkriegs. Daher müssen alle denkbaren politischen, diplomatischen und friedlichen Wege mit größter Entschlossenheit verfolgt werden.
Die kurdische Frage ist heute keine ausschließlich kurdische Angelegenheit mehr. Sie ist eine weltpolitische Frage geworden. In einer Zeit, in der extreme Repression – wie sie etwa im palästinensischen Kontext sichtbar wird – keinerlei moralische Grenzen mehr kennt, gewinnt die Forderung Öcalans nach kulturellen Rechten und institutioneller Autonomie innerhalb der Türkei zusätzlich an Bedeutung. Diese Forderung ist eine Friedensinitiative, und als solche muss sie verstanden und unterstützt werden. Es ist ein zutiefst gerechter und zeitgemäßer Ansatz.
Sowohl die kurdische Freiheitsbewegung als auch Abdullah Öcalan haben trotz enormer Risiken entscheidende Schritte zur Lösung des Konflikts unternommen. Dennoch zeigt der türkische Staat bislang kaum konkrete Maßnahmen. Zwar wurde im Parlament ein Ausschuss eingerichtet, aber viele Stimmen fordern substanzielle Schritte. Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden, damit dieser Prozess erfolgreich sein kann?
Dass im türkischen Parlament eine Kommission zur Untersuchung der kurdischen Frage eingerichtet wurde, ist ein erster Schritt. Dies verdeutlicht sowohl die Komplexität als auch die Dringlichkeit einer politischen Lösung – selbst wenn es sich um ein minimal-institutionelles Ziel handelt.
Für einen wirklichen Durchbruch halte ich es für notwendig, dass ausländische Regierungen und internationale Organisationen diese Initiative aktiv unterstützen. Ein solcher Friedensprozess wird nur in Etappen gelingen – Schritt für Schritt, Phase für Phase, trotz aller Hindernisse und Widerstände.
Insbesondere die internationale Öffentlichkeit spielt eine zentrale Rolle. Die Kurden brauchen die Unterstützung von Regierungen, von internationalen Institutionen – aber vor allem von der Zivilgesellschaft und den Völkern dieser Welt. Es geht darum, die Informationshoheit zu erlangen und ein globales Bewusstsein für die kurdische Sache zu schaffen.
Denn die kurdische Frage ist keine isolierte regionale Angelegenheit. In einer Welt, die eine Mosaikstruktur aus Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen aufweist, stellt sie eine universelle Frage dar. Weltweit gibt es über 300 Territorien mit Unabhängigkeits-, Autonomie- oder Selbstbestimmungsbewegungen. Die kurdische Sache ist daher exemplarisch – ein Leuchtturm für das Recht der Völker auf kulturelle, politische und soziale Selbstbestimmung.
Obwohl das globale Kräfteverhältnis derzeit ungünstig ist, bleibt die Gerechtigkeit der kurdischen Sache bestehen – und gerade diese Gerechtigkeit ist es, die verteidigt werden muss.
Sie betonen die Notwendigkeit internationaler Unterstützung. Beziehen Sie sich damit auf staatliche oder institutionelle Akteure – oder sprechen Sie von einer transnationalen, zivilgesellschaftlichen Solidarität?
Die sogenannte „internationale Staatengemeinschaft“ existiert faktisch nicht mehr – sie hat versagt. Dies wird beispielhaft deutlich am Totalausfall der Vereinten Nationen, die in der Gegenwart keinerlei politische Relevanz mehr haben. Auch die europäische Haltung zur Palästina-Frage zeigt: Es gibt keine kohärente internationale Moral mehr.
Wir erleben einen erschreckenden Verfall des globalen Gewissens. Während der Schoah wussten viele nicht – heute sehen wir live, wie ein Genozid geschieht, und dennoch herrscht apathisches Schweigen. Es zeigt sich ein doppelter Standard: Ein arabisches Leben zählt offenbar weniger als ein weißes, christliches.
Deshalb ist eine Re-Politisierung der Gesellschaften notwendig. Die Menschen sind durch Propaganda, durch rassistische Narrative, durch imperialistische Kriegsrhetorik entfremdet. Umso bedeutender ist der Kampf der Kurden, da er nicht nur national, sondern zutiefst menschlich und international ist. Ihre Forderung nach kulturellen Rechten und politischer Autonomie ist ein Schritt zur Wiederherstellung des globalen Gewissens.
In seinen Notizen an den 12. Kongress der PKK übt Abdullah Öcalan auch Kritik an klassischen marxistischen Konzepten. Als jemand, der die französische Ausgabe von Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ mit einem Vorwort versehen hat, wie bewerten Sie diese Kritik?
Ich halte Öcalans Kritik am Marxismus für begründet und relevant. Er weist zurecht auf den übermäßigen Ökonomismus traditioneller marxistischer Theorien hin. Im 20. Jahrhundert wurde im Sozialismus die Wirtschaft zur obersten Priorität erklärt – ohne Zweifel ist Ernährung, Versorgung und materielle Verbesserung wichtig. Doch die eigentliche Transformation der Gesellschaft beginnt bei der Bewusstseinsveränderung.
Was die Menschen denken, fühlen und wie sie sich organisieren, ist entscheidender als das, was auf dem Tisch steht. Hier liegt Öcalan vollkommen richtig. Die Aufgabe des Sozialismus war nicht nur die soziale, sondern auch die individuelle, moralische und politische Befreiung des Menschen. Diese Dimension wurde in vielen sozialistischen Projekten vernachlässigt – was letztlich auch zum ideologischen Zusammenbruch dieser Systeme geführt hat.
Öcalan betont auch die Bedeutung von Kommune und Kommunalismus. Was halten Sie von diesem Aspekt?
Der von Öcalan vertretene Gedanke eines auf kommunaler Selbstorganisation basierenden Gesellschaftsmodells – wie er heute etwa in Rojava erprobt wird – ist von enormer Bedeutung. Diese Gesellschaftsform, die von unten nach oben aufgebaut wird, verändert bereits jetzt die sozialen Beziehungen nicht nur unter den Kurden, sondern auch in der gesamten Region.
Sie stellt das Bewusstsein und die aktive Teilhabe der Menschen in den Vordergrund – weit über Fragen bloßer nationaler Zugehörigkeit oder wirtschaftlicher Interessen hinaus. Diese Praxis liefert auch für sozialistische und kommunistische Bewegungen weltweit eine wertvolle Erfahrungsgrundlage.
Möchten Sie zum Schluss noch etwas ergänzen?
Ich möchte eindringlich betonen, dass wir uns der Situation des kurdischen Volkes und der Initiativen Abdullah Öcalans bewusst werden müssen. Die kurdische Frage ist nicht nur die Angelegenheit der Kurden – sie ist unsere gemeinsame Sache. In einer Zeit tragischer globaler Entwicklungen zeigt sie einen Weg auf, wie Gerechtigkeit, Frieden und Emanzipation möglich sein könnten.[1]