Vor zehn Jahren begann in Cizîr eine 79‑tägige Ausgangssperre. Nahezu täglich bombardierte die türkische Armee die Stadt sowohl aus der Luft als auch vom Boden aus. Mindestens 288 Menschen wurden getötet, 14 gelten weiterhin als vermisst.
Am 14. Dezember 2015 verhängte der türkische Staat über die Kreisstadt Cizîr (tr. #Cizre#) in der kurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) eine umfassende Ausgangssperre. Zehn Jahre später sind die Verbrechen, die während dieser 79 Tage begangen wurden, bis heute nicht aufgeklärt. Für die Angehörigen der Opfer dauert das Warten auf Gerechtigkeit an – viele von ihnen haben den Weg bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingeschlagen.
Mit Beginn der Ausgangssperre – es handelte sich bereits um die zweite Belagerung der Stadt – wurde Cizîr vollständig abgeriegelt. Wasser, Strom und Kommunikationsmöglichkeiten wurden gekappt, Rettungskräfte am Betreten der Stadt gehindert. Während der monatelangen Militärbelagerung wurde die Stadt mit schweren Waffen aus der Luft und vom Boden aus beschossen. Die türkische Armee führte einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung.
Mindestens 288 Menschen getötet
Nach gesicherten Angaben wurden während der Ausgangssperre mindestens 288 Menschen getötet, darunter 177 Personen, die sich in Kellerräumen in Sicherheit bringen wollten. Unter den Getöteten befanden sich ein Säugling, 41 Kinder und 22 Frauen. Besonders die Massaker in den „Todeskellern“ von Cizîr haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft eingebrannt. In vielen Fällen konnten die Leichen nicht identifiziert werden; einige wurden den Familien erst Jahre später übergeben.
Ambulanz blockiert, Hilfe verweigert
Berichte von Menschenrechtsorganisationen und Berufsverbänden dokumentieren, dass zahlreiche Menschen verbluteten, weil Krankenwagen die Verletzten nicht erreichen durften. Hilferufe blieben unbeantwortet. Noch heute gelten mehr als ein Dutzend Menschen offiziell als „verschwunden“. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Über hunderttausend Bewohner:innen wurden aus Cizîr vertrieben.
Justizverweigerung für die Opfer
Die juristische Aufarbeitung der Geschehnisse blieb weitgehend aus. Strafanzeigen gegen Verantwortliche verliefen größtenteils im Sande. In fünf Fällen wurde zwar eine dauerhafte Fahndung angeordnet, in mindestens 70 Verfahren stellten Staatsanwaltschaften die Ermittlungen ein. Einsprüche der Familien wurden von Gerichten zurückgewiesen. Daraufhin brachten die Angehörigen die Fälle vor das türkische Verfassungsgericht. Dieses lehnte 54 Beschwerden ab, in 16 Verfahren steht eine Entscheidung bis heute aus. In weiteren 25 Fällen dauern die Ermittlungen seit rund zehn Jahren an – ohne Anklage, ohne Konsequenzen.
52 Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof
Mangels wirksamer innerstaatlicher Rechtsmittel wandten sich die Familien schließlich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Insgesamt 52 Verfahren wurden dort eingereicht. Zwei weitere konnten nicht mehr eingebracht werden, da die Antragstellenden inzwischen verstorben sind. Gegenstand der Klagen sind unter anderem die Verletzung des Rechts auf Leben sowie das systematische Versagen der Justiz, die Tötungen aufzuklären. Wann der EGMR über die Verfahren entscheiden wird, ist offen.
Vierzehn Menschen weiterhin vermisst
Nach Angaben des zivilgesellschaftlichen Vereins MEBYA-DER ist der Verbleib von 14 Menschen bis heute ungeklärt. Es handelt sich um Feride Yıldız, Mardin Çelebi, Hacer Arslan, Osman Gökhan, Hüseyin Derviş, Servet Aslan, Idris Susin, Ali Aslan, Cemal Pürlek, Emrah Aşkan, Sercan Uğan, Mustafa Keçanlu, Emrah Aşkın und Sakine Durmiş. Für ihre Familien bedeutet dies seit zehn Jahren ein Leben zwischen Hoffnung und Ungewissheit – und den fortdauernden Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit. [1]